„Unnötige Angst“: Virologe Hendrik Streeck kritisiert Debatte über Corona-Variante Delta

Als Folge der sinkenden Zahl schwerer Corona-Fälle fordert der Bonner Virologe Hendrik Streeck ein Umdenken. Die Pandemie dürfe nicht mehr nur an Infektionszahlen gemessen werden, sagte der 43-Jährige im Exklusiv-Interview mit der Fuldaer Zeitung.
Fulda - Es sei nicht logisch, „Konsequenzen für die Gesamtbevölkerung zu ziehen, nur wenn Kinder und Jugendliche vermehrt positiv getestet werden“, erklärt Hendrik Streeck mit Blick auf die Corona-Pandemie. Und auch zu den Themen Lockdown, Delta-Variante, Curevac und Maskenpflicht bezieht der Experte Position.
Herr Professor Streeck, wie erklären Sie, dass die Zahl der Neuinfektionen in den vergangenen Wochen so rapide gesunken ist? War die viel kritisierte Bundesnotbremse mit dem harten Lockdown doch richtig?
Die Bundesnotbremse mit den Ausgangssperren hat wahrscheinlich wenig dazu beigetragen, dass die Zahlen jetzt sinken. Die Gründe sind multifaktoriell. Natürlich spielt die Impfung zunehmend eine Rolle. Was unterschätzt wird, ist die Saisonalität der Corona-Viren. Das ist für Virologen schon lange bekannt. Dafür muss man aber noch nicht mal Virologe sein. Wir alle kennen das doch: Im Winter ist man erkältet, im Sommer eher nicht. Das ist genau das Phänomen, das wir gerade sehen. Das Virus ist nicht komplett weg, aber es verbreitet sich auf einem niedrigeren Level – so wie im letzten Sommer.
Bewegen wir uns steil in Richtung Herdenimmunität, die wir brauchen, um die Pandemie zu überwinden?
Es ist schwer zu sagen, ob es Herdenimmunität im klassischen Sinne geben wird, wohl aber einen Herdeneffekt. Der Impfstoff schützt vor allem vor einem schweren Verlauf und sekundär auch gut vor einer Infektion. Jedoch nicht bei jedem. Geimpfte können daher gelegentlich das Virus in sich tragen und weitergeben. Auch wissen wir nach wie vor nicht, wie viele Menschen in Deutschland sich wirklich infiziert haben. Da haben zu wenige Untersuchungen stattgefunden. Ich hatte vor geraumer Zeit sogenannte Sentinel-Studien angeregt, bei denen Abstriche auf repräsentativer Basis deutschlandweit und stichprobenartig wiederholt genommen werden. Das wäre wichtig, um zu verstehen, wie groß die Dunkelziffer der Infizierten ist, und auch um das Infektionsgeschehen besser bewerten zu können. Dies wurde, warum auch immer, so nicht gemacht. Wir agieren weiterhin leider nicht vorausschauend genug.
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Sie haben zuletzt immer wieder die fehlende Langzeitstrategie der Bundesregierung im Kampf gegen Corona beklagt. Sehen Sie inzwischen einen Streif am Horizont?
Wir sind aus meiner Sicht immer noch zu reaktiv und nicht aktiv genug. Wir versäumen es, aus der Pandemie maximal zu lernen und uns auf Herbst und Winter vorzubereiten. Es herrscht allgemein der Eindruck, das Virus verschwindet und dass wir die Pandemie überwunden haben, wenn die nächsten Monate ruhig laufen. Viel mehr sollten wir Planspiele entwerfen und uns für alle Eventualitäten, die im Herbst eintreten könnten, vorbereiten. Es gibt zu viele ungeklärte Unbekannte.
Was genau meinen Sie?
Zum einen die Delta-Variante, über die wir noch zu wenig wissen. Aber auch die Frage, wie häufig sich Geimpfte infizieren und das Virus weitergeben werden, steht im Raum. Und natürlich muss man damit rechnen, dass Saisonalität im Herbst wieder eine Rolle spielt. Die Signifikanz des Anstiegs der Infektionen in den kalten Monaten können wir derzeit absolut nicht vorhersehen.
Name | Prof. Dr. med. Hendrik Streeck |
Geburtsdatum | 7. August 1977 in Göttingen (Niedersachsen) |
Medizinstudium | Humboldt-Universität (Charité – Universitätsmedizin Berlin), Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn |
Facharzt | Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie |
Anstellung | Universitätsklinikum Bonn |
Forschungsschwerpunkte | HIV, Covid-19 |
Droht uns also ein weiterer Lockdown?
Genau das gilt es ja zu verhindern. Ich würde mir wünschen, dass in einem interdisziplinären Pandemierat schon jetzt vorwärts gedacht wird; dass man in Planspielen durchdenkt, was im Herbst bei welchem Szenario zu tun ist. Damit uns als einzige Antwort eben nicht wieder nur der Lockdown bleibt, sondern dass sowohl der Einzelhandel als auch Kulturveranstalter und Gastronomen Planungssicherheit bekommen. Wir wissen ja inzwischen, dass mit entsprechenden Hygienekonzepten weder Geschäfte noch Gastronomie-Betriebe pauschal geschlossen werden müssen, denn ab einem gewissen Standard gibt es keine Infektion mehr. Mein Plädoyer ist, dass wir in einen vorwärtsgewandten Modus kommen, dass wir anfangen, diese Pandemie anders zu denken – und zwar so, dass möglichst alles offenbleiben kann.
Was aber nicht bedeutet, dass es im Herbst oder Winter bei wieder steigenden Zahlen zu keinerlei Einschränkungen mehr kommt?
Richtig. Wir sind eben noch nicht am Ende der Pandemie. Aber ich glaube, dass es möglich sein wird, das Leben einigermaßen normal aufrecht zu halten – zumal die Krankheitsverläufe mit zunehmender Impfung sehr viel milder sein werden als in der Vergangenheit. Man könnte vom Sommer- in eine Art Wintermodus gehen – mit bestimmten Einschränkungen bei bestimmten Szenarien, auf die man sich dann einstellen kann. Aber das heißt nicht Lockdown.
Aktuell kehrt vielerorts Normalität zurück. Aber manche Maßnahmen wie Testpflicht, Kontaktbeschränkungen oder Maskenpflicht in geschlossenen Räumen bleiben. Sind wir bei den Öffnungen zu langsam?
Ich sehe es als richtig an, dass man in Babyschritten vorwärts geht und schaut, was verantwortbar ist und wie sich die Zahlen entwickeln. Aber ich begrüße es ausdrücklich, dass zum Beispiel bei den EM-Spielen der deutschen Nationalmannschaft wieder 14.000 Fans ins Stadion dürfen. Die Zahl ist willkürlich gewählt, und ich hoffe, dass wir daraus lernen, ob Events dieser Größenordnung wieder ohne Probleme stattfinden können. Mit solchen Versuchen werden wir uns Schritt für Schritt wieder mehr Normalität zurückholen.
Derzeit wird über die Abschaffung der Maskenpflicht diskutiert. Können wir uns die Maske inzwischen sparen?
Auch hier wäre ich für einen Sommer- und einen Wintermodus. Bei warmen Temperaturen und einer niedrigen Inzidenz macht die Maskenpflicht keinen Sinn mehr. Bei wieder steigenden Zahlen ist das etwas anderes.
Gilt das nur für draußen – oder auch für Innenräume, zum Beispiel in Geschäften und Schulen?
Die Aersolforscher würden mir recht geben, dass eine Maskenpflicht im Freien, egal ob Winter oder Sommer, wenig zielführend ist. In Innenräumen muss man es differenzierter sehen, und es kommt auf die Situation an. Allgemeingültige Empfehlungen kann man hier nicht geben. Wichtig ist, dass man sich bewusst macht, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist.
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In Deutschland wird auf Teufel komm raus getestet. Abgesehen von den Betrugsvorwürfen, die mancherorts im Raum stehen: Was halten Sie von den Massen-Schnelltests?
Generell sind Testungen sinnvoll. Ein Problem ist aber, dass Antigenschnelltests fehleranfälliger sind als PCR Tests. Es muss jedem klar sein, dass der Test nicht positiv sein muss, wenn er positiv anzeigt – und nicht negativ, wenn er negativ anzeigt. Die Spezifität der Tests ist geringer, so dass bei einer niedrigen Inzidenz die Anzahl der falsch positiven steigt. Daher sollten bei niedrigen Inzidenzen die Tests meiner Meinung nach nicht mehr verpflichtend sein.
Wie groß sind Ihre Sorgen wegen der kursierenden Delta-Variante, die zuerst in Indien aufgetaucht ist?
Wissen Sie, da ist mal von einer 40, mal von einer 60 oder sogar 100 Prozent erhöhten Übertragungswahrscheinlichkeit die Rede. Doch das lässt sich bisher noch nicht sagen. Die Diskussion um Varianten gehört für mich in die Virologie und Epidemiologie, aber nicht in die öffentliche Diskussion. Was wir wissen: Unsere Maßnahmen und zum Glück auch die Impfstoffe wirken genauso gut gegen die Varianten. Alle Schreckensmeldungen und Warnungen erzeugen beim Bürger nur unnötige Angst.
Angst herrscht auch bei vielen Eltern, die nicht wissen, ob sie ihre Kinder impfen lassen sollen oder nicht. Wenn sie der Stiko-Empfehlung folgen und ihre Kinder nur in Ausnahmefällen impfen lassen, müssen wir uns dann wieder auf geschlossene Schulen im Herbst einstellen?
Grundsätzlich: Ich finde die Entscheidung der Stiko richtig, zu differenzieren und nur für die Kinder eine Impfung zu empfehlen, die potentiell einen schweren Verlauf entwickeln könnten. Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Die Infektiosität von Kindern ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir die Pandemie nicht mehr nur an den Infektionszahlen messen dürfen, sondern an weiteren Parametern. Kinder und Jugendliche werden einfach weniger krank, auch wenn man bei ihnen das Virus im Rachen nachweisen kann. Deswegen dürfen wir nicht in den Automatismus verfallen, Konsequenzen für die Gesamtbevölkerung zu ziehen, nur wenn Kinder und Jugendliche vermehrt positiv getestet werden.
Corona: Virologe Streeck zu Curevac: „Enttäuschend“ und „überraschend“
Angeblich hält die Impfung gar nicht so lange wie erhofft. Es gibt bereits Immunologen, die meinen, es werde für die ersten bald schon eine dritte Impfung geben müssen.
Alle Daten, die es gibt, deuten auf einen guten und langen Impfschutz hin. Natürlich kann es sein, dass wir nachimpfen müssen, aber die Daten gibt es so noch nicht. Wie es bei Älteren ist, wo ein Impfschutz generell schneller nachlässt, werden wir sehen.
Eine Zulassung des Curevac-Impstoffs ist aufgrund der enttäuschenden Zwischenanalyse in weite Ferne gerückt. Sehen Sie überhaupt noch eine Chance für den Impfstoff?
Das Ergebnis des Curevac-Impfstoffs ist enttäuschend und überraschend zugleich. Es zeigt aber einmal mehr, dass wir die Wirksamkeit eines Impfstoffes nur schwer vorhersagen können. Der Vorteil des Curevac-Impfstoffs ist, dass er auch auf der mRNA-Technologie basiert und dadurch leichter angepasst werden kann. Aber auch der veränderte Impfstoff muss natürlich erst klinisch getestet werden.
Sehen Sie durch die nun beginnende Urlaubszeit und die wieder zunehmende Reisefreude der Menschen neue Risiken?
Natürlich muss man aufpassen. Wer in ein Gebiet mit hohen Infektionszahlen reist und nicht geimpft ist, hat ein höheres Risiko. Aber dass Urlauber in großer Zahl das Virus mit nach Deutschland bringen, insbesondere wenn man bestimmte Regeln weiterhin einhält, glaube ich nicht.
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Virologe Streeck fordert Umdenken in der Corona-Politik
Die Kosten für die Pandemie steigen ins Unermessliche. Jetzt kritisiert sogar der Bundesrechnungshof die Ausgaben für Masken und aus Profitgründen falsch angegebene Daten zu Intensivbetten. Ist das alles noch verhältnismäßig – auch im Vergleich mit den Ausgaben für Corona-Forschung, an der Sie ja beteiligt sind?
Ich denke, man muss hier genau hinsehen: Bei den Masken waren wir Anfang letzten Jahres in der Situation, dass der Markt leergefegt war. Ich erinnere mich gut an die Phase, in der die kleinen Krankenhäuser Sorge hatten, dass sie aufgrund mangelnder Masken keine Operationen mehr durchführen könnten. Bei den Intensivbetten ist es gerade im Hinblick auf den Herbst wichtig, diese Frage aufzuarbeiten. Ich hatte mich schon vor Monaten gewundert, dass Deutschland mit einer anteilmäßig höheren Zahl von Intensivbetten als Frankreich bei einer Inzidenz von 110 dichtmacht und die Franzosen bei einer Inzidenz von 400 – Paris sogar 600 – mehr Geschäfte wie zum Beispiel Plattenläden offen hatten.
Sie haben kürzlich in einer Rede in Weimar gesagt, die Pandemie hätte verhindert werden können. Können Sie uns das erklären?
Ich habe dabei die Aussage zitiert, die von einem unabhängigen Expertengremium, das durch die WHO eingesetzt wurde, getätigt wurde: Hätte die Weltgemeinschaft sich besser auf eine Pandemie vorbereitet, hätte China schneller die Infektionen gemeldet und hätte die WHO schneller reagiert, wäre das Ausmaß der Krise wahrscheinlich ein anderes, ein geringeres gewesen. Es sind weltweit zu wenige Koordinationen gelaufen, es gab zu wenig Informationsaustausch unter Staaten. Das könnte man künftig viel besser machen, wenn man wollte.
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Das Interview
Das Interview mit Hendrik Streeck ist am Samstag, 19. Juni, in der Printausgabe - und im E-Paper - der Fuldaer Zeitung veröffentlicht worden. Online erscheint eine gekürzte Fassung. Eine E-Paper-Ausgabe können Sie über unsere App kaufen; für Android-Geräte im Google-Play-Store oder für iOS-Geräte im App-Store. Weitere Fragen dazu beantwortet unser Kundenservice unter der Telefonnummer (0661) 280310.
Zuletzt wurden viele Wissenschaftler daran gemessen, wie erfolgreich sie mit ihren Prognosen waren. Auf welche Erkenntnis sind Sie stolz?
Als Wissenschaftler geht es nicht darum, ob man richtig oder falsch mit einer Vorhersage lag. Alle Wissenschaftler treffen ihre Vorhersagen auf Basis vorliegender Daten, und kein Wissenschaftler würde von sich selbst behaupten, dass er immer richtig lag. Zufrieden bin ich damit, dass wir als erste Forscher weltweit den Geruchs- und Geschmacksverlust vieler Patienten beschrieben und damit vielen Klinikern und Ärzten etwas an die Hand gegeben haben, Covid 19 zu erkennen. Das war aber keine Vorhersage, sondern wissenschaftliche Erkenntnis.
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