Virologe Hendrik Streeck fordert: „Wir müssen mit dem anlasslosen Testen aufhören“

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck ist als Mitglied des Corona-Expertengremiums der Bundesregierung ein gefragter Gesprächspartner. Im Interview mit unserer Zeitung spricht Streeck über den Nutzen der Impfung, das Masketragen und die Bedeutung von Saisonalität beim Infektionsgeschehen.
Fulda - Die Corona-Infektionszahlen in Deutschland und auch in der Region gehen zurück. Im Interview mit der Fuldaer Zeitung äußert sich Top-Virologe Hendrik Streeck zur Corona-Lage in Deutschland und zur weiteren Strategie im Umgang mit dem Virus.
Herr Professor Streeck, obwohl die Maskenpflicht vielerorts abgeschafft wurde, ist vielen Bürgern noch nicht ganz wohl ohne Mund-Nasen-Schutz. Hand aufs Herz: Tragen Sie in geschlossenen Räumen, zum Beispiel beim Einkaufen, weiter Maske?
Ich trage in der Tat noch Maske, auch wenn ich nicht immer meine, dass es notwendig sei. Es hat für mich aber den schönen Nebeneffekt, dass ich in der Öffentlichkeit nicht so leicht erkannt werde und in Ruhe einkaufen kann (lacht).
Obwohl vor ein paar Wochen viele Maßnahmen von heute auf morgen weggefallen sind und der Sommer noch gar nicht richtig begonnen hat, sinkt die Zahl der Neuinfektionen inzwischen rapide. Sie haben oft die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen angezweifelt. Fühlen Sie sich bestätigt?
Ich wundere mich eher, dass viele immer noch überrascht darauf reagieren, dass den größten Einfluss auf die Verbreitung von Coronaviren in unseren Breiten die Saisonalität hat. Saisonalität wird häufig gleichgesetzt mit hoher Temperatur – das ist es aber nicht alleine. Auch UV-Strahlung, Luftfeuchtigkeit und nicht zuletzt unser Verhalten spielen da eine Rolle. Der zweite Punkt, der wichtig ist, um die sinkenden Zahlen zu verstehen: Die Hauptübertragung findet nicht beim Einkaufen im Supermarkt statt, sondern im privaten Haushalt. Wir reden hier geschätzt über 70 bis 80 Prozent der Übertragungen. Und im Privaten wurde ja bisher nicht wirklich Maske getragen. Hinzu kommen sogenannte Netzwerk-Effekte, die die Verbreitung nach einer gewissen Zeit abbremsen.
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Wie belastbar sind die aktuellen Zahlen? Man hört, dass viele, die sich testen und positiv sind, gar nicht mehr zum PCR-Test gehen und somit auch nicht in die Statistik einfließen.
Wir müssen aus meiner Sicht nicht mehr darüber reden, dass die Zahlen, die wir in Deutschland haben, leider nicht sehr belastbar sind. Ich habe von Beginn der Pandemie an gefordert, dass repräsentative Stichproben gezogen werden, dass wir besser erfassen, wie die Situation ist. Im Moment haben wir nur Schätzwerte, die enorm von den Teststrategien in den jeweiligen Bundesländern abhängen und auch vom Testverhalten der Menschen. Während der verschiedenen Phasen der Pandemie lag die Dunkelziffer geschätzt 1,5- bis 4-mal so hoch wie der Wert, der offiziell gemeldet wurde. Wie es sich momentan verhält, ist kaum abzuschätzen. Aber dass der Trend nach unten geht, sehen wir auch an der Testpositivitätsquote.
Name | Hendrik Streeck |
Fachgebiet | Virologie |
Alter | 44 |
Forschungsstandort | Universitätsklinikum Bonn |
Meinen Sie mit dem Hinweis auf die Teststrategien, dass wir zu viel testen? Ende Mai sollen ja die kostenlosen Tests wegfallen.
Ja, wir müssen endlich mit dem anlasslosen Testen aufhören. Da die Antigentests, die derzeit verfügbar sind, zu spät auf Omikron reagieren, können Infektion und Weitergabe des Virus schon stattgefunden haben, bevor der Infizierte identifiziert ist. Die Massentests haben also infektiologisch wahrscheinlich nur einen geringen Erfolg. Zum anderen ist es wirtschaftlich und ökologisch fragwürdig, was wir da machen. Anders verhält es sich bei vulnerablen Gruppen, also zum Beispiel im Alten- und Pflegeheim. Da muss in hoher Frequenz getestet werden, um die Eintragung, aber auch die Ausbreitung in den Heimen zu vermeiden.
Nun scheint das Virus um manch Ungeimpften einen großen Bogen zu machen, während manch vierfach Geimpfter schwer krank wird. Kommen wir bei dem Ziel, das Virus zu verstehen und in Schach zu halten, eigentlich voran?
Wir haben in den letzten zwei Jahren sehr viel über das Coronavirus gelernt. Aber es gibt weiterhin eine große Anzahl offener Fragen. Dazu gehören genaue Erkenntnisse über das Infektionsgeschehen. Oder die Impfung: Es ist eindeutig, dass wir durch die Impfung die schweren Krankheitsverläufe vermeiden, aber es kann sein, dass wir dadurch auch mehr asymptomatische Verläufe verlieren, da der ganze Körper, das ganze Immunsystem bei Geimpften auf das Virus sofort reagiert. Wenn also jemand sagt: „Ich war infiziert und hatte ziemlich starke Symptome, ohne Impfung wäre es viel, viel schlimmer gewesen“, dann müssen wir ehrlicherweise sagen: Diese Aussage ist noch nicht belegbar. Hier fehlen noch wichtige Daten und Erkenntnisse. Und das muss offen und transparent kommuniziert werden.
Gerade in der Debatte um die Impfpflicht wurde immer wieder behauptet, mit einer Impfung schütze ich meine Mitmenschen. Müssen wir uns von diesem Argument angesichts der Tatsache, dass sich auch Geimpfte infizieren, verabschieden?
Diese Diskussion ärgert mich, denn sie spielt im Grunde den „Querdenkern“ in die Hände. Jeder erlebt doch, dass sich Geimpfte und Geboosterte infizieren können und dass es keinen Fremdschutz durch die Impfung gibt. Hier fehlt mir die kluge Kommunikation. Auch zuletzt im Bundestag haben Abgeordnete immer noch von einem Fremdschutz als Argument für die Impfpflicht gesprochen – und zwar nicht von einem indirekten Fremdschutz, dass die Intensivstationen freibleiben, sondern einem direkten Fremdschutz, dass jemand, der geimpft ist, den anderen nicht infizieren kann. Aber das ist schlichtweg falsch.
Kürzlich wurde eine gut gemachte Studie zur Viruslast als weiterer Beleg herangezogen. Hier zeigte sich, dass Geboosterte, wenn sie sich doch nach der Impfung infiziert hatten, weniger Viruslast im Rachen haben. Aber auch hier ist die Studie kein Beweis für den Fremdschutz. Erstens korreliert Viruslast nicht mit Infektiosität, zweitens wurde die Studie kurze Zeit nach der Boosterung durchgeführt. Dass in den ersten drei Monaten nach der Impfung die Infektionswahrscheinlichkeit herabgesetzt ist, ist unumstritten. Das beweist aber keinen langfristigen Fremdschutz. Wir werden und sollten uns bestimmt nicht alle drei Monate impfen lassen. Ich sehe es enorm kritisch, wenn solche Studien dann als Beweis herangezogen werden, da der Normalbürger die Finessen solcher wissenschaftlichen Arbeiten nicht versteht und diese Aussage erstmal glaubt.
Vielleicht sind Kommunikationsfehler auch ein Grund dafür, dass die Impfkampagne der Regierung zum Erliegen gekommen ist. Wir verharren bei einer Quote von 76 Prozent. Sie waren ein Gegner der Impfpflicht und haben immer darauf gesetzt, dass die Skeptiker direkt angesprochen werden. Wäre es nicht besser, sich damit abzufinden, dass sich ein Viertel der Gesellschaft eben nicht impfen lässt?
Zunächst: Da wir mit der Impfung einen Eigenschutz haben und das zur eigenen Gesundheitsfürsorge gehört, sollten wir von anderen nicht einfordern, dass sie sich selbst schützen. Damit man mich nicht falsch versteht: Ich bin ein Impf-Fan, selbst dreifach geimpft und werbe überall, wo ich kann, für das Impfen. Aber es ist ein Stück Eigenverantwortung, ob sich Menschen impfen lassen oder auch im Supermarkt Maske tragen. Bei einem Impfstoff, wo wir weder Schutzdauer und Schutzwirkung vorhersagen können, wo wir nicht wissen, welche Variante kommt, wie gut der Impfstoff dagegen wirkt, ob wir überhaupt einen angepassten Impfstoff bekommen werden und wir nicht mal sagen können, wie häufig dann geimpft wird, sehe ich eine Impfpflicht enorm kritisch. Anders würde es sich verhalten, hätten wir einen Impfstoff, der zu einer sterilen, also schützenden Immunität führt und damit auch einen Fremdschutz bietet. Oder einen Impfstoff, mit dem man das Virus ausrotten könnte. Doch beide Fälle sind nicht gegeben.
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Video: Virologe Streeck plädiert für Sommer- und Wintermodus
Dennoch hat Gesundheitsminister Lauterbach sein beharrliches Eintreten für eine Impfpflicht auch mit der Prognose begründet, dass es im Herbst zu einer weiteren schweren Welle kommen könne und „das ganze Land“ dann „in der Geiselhaft“ der Ungeimpften sei. Das klingt nicht gerade hoffnungsvoll.
Die Schärfe muss dringend raus aus der Diskussion. Wir kommen jetzt in ruhigere Fahrwasser, die Fallzahlen gehen deutlich nach unten. Jetzt ist die Zeit, eine gute Impfkampagne für Herbst und Winter vorzubereiten, die anders ist als die relativ plumpen Impfaufforderungen, die es bisher gab. Wir müssen Beratungsstellen schaffen für Menschen, die sich eine Zweitmeinung einholen und in Ruhe mit einem Arzt reden wollen. Diese Anlaufstellen haben wir nicht. Zusätzlich brauchen wir eine Impfkampagne, die speziell auf vulnerable Gruppen in Alten- und Pflegeheimen ausgerichtet ist.
Für wie wahrscheinlich halten Sie denn aktuell eine Mutation, die viel gefährlicher wird als Omikron?
Dass Viren mutieren, ist nicht ungewöhnlich. Und seit ein paar Tagen haben wir ja mit BA.4 und BA.5 zwei Subvarianten in Südafrika, die wir noch nicht einschätzen können. Aber ich warne davor, immer, wenn eine neue Variante oder Subvariante kommt, gleich zu glauben, diese wird schlimmer sein. Im Moment haben wir keine Hinweise darauf, dass die nächste Mutation krankmachender sein könnte als Omikron.
Das gesamte Interview mit dem Virologen Hendrik Streeck lesen Sie in der Samstagausgabe der Fuldaer Zeitung (16. April) und im E-Paper. Darin erklärt der Experte unter anderem, wie er zu den sogenannten G-Regeln steht und was von den zunächst verkündeten Plänen einer freiwilligen Corona-Quarantäne hält. Online erscheint eine gekürzte Fassung.