Gastbeitrag: Auch in der Corona-Krise gilt das Grundgesetz

Prof. Dr. Carsten Schütz verlangt von den Trägern der Staatsgewalt auch in Zeiten der Corona-Krise die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards.
- Professor Dr. Carsten Schütz ist seit 2009 Direktor des Sozialgerichts Fulda.
- In einem Gastbeitrag in unserer Zeitung äußert sich Schütz kritisch zum Verhalten der Gerichte in Zeiten der Corona-Krise.
- Mit dem News-Ticker der Fuldaer Zeitung behalten Sie alle aktuellen Entwicklungen in der Corona-Pandemie im Blick.
Fulda - Wer im Herbst 2019 in einem juristischen Staatsexamen vertreten hätte, dass die Rechtseinschränkungen, die seit März 2020 durch allein exekutive Entscheidungen auf derart unbestimmten Ermächtigungsgrundlagen wie denjenigen des Infektionsschutzgesetzes vorgenommenen wurden, verfassungsgemäß sind, wäre durchgefallen. Völlige Verkennung des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips sowie der jahrzehntelangen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsvorbehalt und zum Verhältnismäßigkeitsprinzip hätte der Korrektor moniert.
Nun ist alles anders – doch erwachen langsam die Verfassungsrechtswissenschaft sowie auch die Gerichte aus ihrer Schockstarre, um den Finger in die Wunde zu legen, die die Missachtung der überkommenen, offenbar aber trügerischen Verfassungsgewissheiten und auch die Selbstentmachtung der deutschen Parlamente verursacht haben.
Carsten Schütz zur Maskenpflicht in Zeiten von Covid-19: Grundrechtseingriff muss zu rechtfertigen sein
Die Staatsgewalt ist ausnahmslos rechtfertigungspflichtig für jede Rechtseinschränkung. Eine Maskenpflicht mag primär eine nervige und unserer westeuropäischen Kultur schlicht fremde Vorgabe sein – freiheitsrechtlich ist sie von sehr geringer Bedeutung, aber gleichwohl ein Grundrechtseingriff und daher vom Verordnungsgeber zu rechtfertigen. Wer also Masken auf öffentlichen (Groß-) Plätzen anordnet, muss darlegen können, dass Infektionen auch unter freiem Himmel und mit Abstand zu erwarten sind.
Nichts Anderes gilt für Fußballstadien: Wer Zuschauer völlig ausschließt, muss belegen, dass Erkrankungen auch drohen, wenn zwischen allen Fans jeweils drei Plätze frei bleiben. Ansonsten ist der Eingriff unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig. Das gilt auch für den „Inzidenzwert“, der bisher ohne irgendeine erkennbare Begründung gerade bei 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner – beachte: nicht Erkrankungen, sondern Testergebnisse – massive Grundrechtseinschränkungen auslösen soll. Die Regierungen erfinden diesen Wert, um daraus dann das Recht zur Freiheitsbeschränkung abzuleiten: eine Selbstermächtigung der Exekutive und damit ein evidenter Verstoß gegen Art. 80 Abs. 1 des Grundgesetzes.
Dr. Carsten Schütz fürchtet weitere Spaltung der Gesellschaft
Daher ist auch die Verunglimpfung des deutschen Föderalismus als abzuschaffender „Flickenteppich“ obszön. Auch diese „vertikale Gewaltenteilung“ sichert die Mäßigung der Staatsgewalt und vor allem die Feststellung des „mildesten Mittels“. Denn nur wenn klar ist, dass weniger einschneidende Maßnahmen nicht zum Ziel führen, ist ein weitergehender Freiheitseingriff zur Zielerreichung erlaubt. Und das kann man nur wissen, wenn man verschiedene Maßnahmen in ihrer tatsächlichen Wirkung vergleichen kann – ermöglicht erst durch unterschiedliche Regelungen in den einzelnen Bundesländern.
Und letztlich: Die Spaltung der Gesellschaft gewinnt aktuell weiter an gefährlichem Nährstoff. Dies liegt auch daran, dass sich nicht unwesentliche Teile der Bevölkerung kaum mehr repräsentiert sehen. Diese Menschen mag man als „Spinner“ oder „Verschwörungstheoretiker“ abtun. Doch macht man es sich damit zu einfach, denn es gibt durchaus berechtigte, rationale Kritik an den aktuellen politischen Entscheidungen. Vor allem aber birgt es die Gefahr, dass diese Menschen von demokratiefeindlichen Gruppen vereinnahmt werden, weil ihre Positionen bei den anderen Parteien gar nicht mehr vorkommen. Das gilt es dringendst zu verhindern.