Hinzu kommt: Die Familie stammt aus Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt des türkischen Kurdistans, wo beim Erdbeben Anfang Februar 300 Menschen ums Leben kamen und Hunderte Häuser einstürzten oder unbewohnbar geworden sind. Dabei ist die Stadt immer noch gebeutelt von den Zerstörungen und Straßenkämpfen zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Terrororganisation PKK vor einigen Jahren.
Das ist eine Verletzung der Menschenrechte, wenn man Menschen die Möglichkeit verweigert, mit ihrem Anwalt oder einem politischen Vertreter zu kommunizieren.
Demir ist über die versuchte Abschiebung entsetzt und weist auf einen Widerspruch hin: Relativ zügig hatte die Bundesregierung zugesagt, die Aufnahme von Verwandten aus dem Erdbebengebiet zu vereinfachen und Visaverfahren zu beschleunigen. Die finanzielle Unterstützung für betroffene Menschen wurde in dieser Woche auf fast 240 Millionen Euro verdoppelt. Auf der anderen Seite schicke Deutschland Menschen in dieses Katastrophengebiet – obwohl es seit Anfang Februar mehr als 3000 Nachbeben gegeben habe, zuletzt am Donnerstag eines der Stärke 5,3.
Für Abdulkerim Demir ist das genauso unverständlich wie die Art der Abschiebung. Er selbst war in der Nacht von Nachbarn der Yalcis benachrichtigt worden – die Polizisten hätten sämtliche Handys der Familie eingesammelt. „Das ist eine Verletzung der Menschenrechte, wenn man Menschen die Möglichkeit verweigert, mit ihrem Anwalt oder einem politischen Vertreter zu kommunizieren.“
Entscheidungen, Menschen abzuschieben, liege „eine sorgfältige und sensible Prüfung jedes Einzelfalls zugrunde“, erklärt das zuständige Regierungspräsidium Kassel auf Anfrage. Eine Ausreisepflicht müsse vollstreckt werden, wenn kein Abschiebehindernis vorliegt.
Das sei hier nicht der Fall: „Ein Abschiebestopp in die Türkei besteht seitens der Bundesregierung aktuell nicht, da weite Landesteile nicht direkt vom Erdbeben betroffen sind.“ Eine Ausreisepflicht gelte immer für ein gesamtes Herkunftsland und nicht für eine bestimmte Region. Daher gebe es in Hessen keine Rückführungen unmittelbar in die vom Erdbeben zerstörten Ortschaften, sondern zum Flughafen von Istanbul.
Ähnlich hatte es der Fuldaer Landtagsabgeordnete Thomas Hering (CDU) kürzlich während einer Debatte im hessischen Landtag zum Thema formuliert. Er unterstrich, dass es selbsterklärend sein müsse, dass nicht in Krisengebiete abgeschoben wird. Aber: „Nicht die gesamte Türkei ist Krisengebiet.“
Darüber, was am Flughafen in Frankfurt geschah, gibt es unterschiedliche Berichte: Laut Demir sei den Behörden in letzter Sekunde aufgefallen, dass ein Fehler gemacht wurde: Der Vater habe eine Kopie seines Asylantrags vorgezeigt, die er zu Hause noch geistesgegenwärtig eingesteckt hatte.
Das zuständige Regierungspräsidium (RP) Kassel hingegen erklärt, dass die Abschiebung keineswegs aufgrund eines Fehlers scheiterte, sondern wegen „passiver Widerstandshandlungen“. Details nennt das RP nicht, aber damit könnte schlicht die verbale Weigerung der Familie gemeint sein, ins Flugzeug einzusteigen. Die sechs durften nach Fulda zurückkehren. „Ich konnte diese Nacht nicht schlafen“, sagt Demir: „Erst früh morgens, als alle im Zug saßen, rief mich der Vater an.“
In der Türkei hätte Yalci Folter gedroht, glaubt Demir. Dort wird er wegen politischer Vorwürfe verfolgt: „In der Türkei wird willkürlich verurteilt. Es gibt keine faire Justiz.“ Über die Hintergründe will Yalci selbst nicht sprechen. Er hat Angst. Daher hatte die Familie in Deutschland Asyl beantragt. Seit fünf Jahren lebt sie in Fulda, seit vier Jahren unabhängig von sozialen Leistungen. Der Vater hat eine feste Arbeit als Maler gefunden, sein Arbeitgeber setzte sich in der Vergangenheit immer wieder für das Bleiberecht seines Mitarbeiters ein. Die vier Kinder im Alter zwischen vier und neun Jahren besuchen Kindergarten und Schule.
„Ich bitte alle Verantwortlichen, in Zukunft alle demokratischen Mittel zu beachten“, sagt Abdulkerim Demir. Die Yalcis hoffen jetzt bange darauf, dass der gesamten Familie bald eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat in Fulda eine große Welle der Solidarität ausgelöst. Auch Adem Bardakci (43) aus Fulda wollte helfen und machte sich mit einem Freund und einem Kleintransporter voller Spenden auf die Reise.