Und visionär war Maria Rang in vielerlei Hinsicht. Zum Beispiel hatte sie das von ihr gegründete Antoniusheim bereits damals als GmbH organisiert. „Völlig untypisch zu dieser Zeit”, so Sippel. Das hat allerdings zur Folge, dass Antonius beim Amtsgericht Fulda noch heute unter der Handelsregisternummer 52 geführt wird – und somit eine der ältesten GmbHs in Fulda ist. (Lesen Sie hier: Ehrenamtlicher Inklusionsbeauftragter für Bad Salzschlirf gesucht)
Viel entscheidender aber war, dass Maria Rang schon damals – in Zeiten, in denen Menschen mit Behinderung landauf, landab in „Idiotenanstalten” weggesperrt wurden – den Schlüssel zum Erfolg in der gesellschaftlichen Teilhabe gesehen hat. Inklusion statt Isolation also. „Denn Inklusion setzt voraus, dass jeder Mensch in seiner Individualität akzeptiert ist, sich mit seinen Stärken und Schwächen einbringen und in vollem Umfang teilhaben kann“, sagt Sippel. „Und das zu einer Zeit, als noch niemand das Wort Inklusion überhaupt kannte.”
So ging es Rang schon zu jener Zeit vor allem darum, Brücken zwischen den Menschen mit Behinderung und der Bürgerschaft in Fulda zu bauen. Begegnungen zu schaffen. Leben, Lernen und Arbeiten – das war immer schon ihr Credo. Deshalb spielte bei ihr das Thema Bildung eine ganz zentrale Rolle. „Was wir heute beispielsweise mit der Startbahn und Perspektiva erfolgreich tun, dafür hat sie schon vor mehr als 100 Jahren den Grundstein gelegt”, betont Sippel. Die erste Schwester der Vinzentinerinnen war so zum Beispiel keine Krankenschwester – wie früher üblich – sondern Lehrerin.
„Unser Auftrag ist es, die ideellen, inhaltlichen und auch materiellen Voraussetzungen für erfolgreiche Inklusion zu schaffen”, sagt Dr. Alois Rhiel. „Im Alltag gelebt werden muss sie dann aber von allen Bürgerinnen und Bürgern.” Wobei die Inklusion von Menschen mit Behinderung gar nicht wirklich das alleinige Ziel ist. „Es geht darum, Chancen für jeden zu ermöglichen. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der jeder und jede anerkannt wird, wie er oder sie ist”, sagt Sippel.
Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der jeder und jede anerkannt wird, wie er oder sie ist.
Auch wenn Antonius heute durchaus solide aufgestellt ist, so gab es in den vergangenen 120 Jahren auch andere Zeiten. „Es ging in vielen Jahren bei Antonius auch ums Überleben”, sagt Sippel. Dreimal war Antonius in früheren Jahren finanziell in Schieflage. „Aber jedes Mal gab es jemanden, der die Einrichtung mit einer großzügigen Spende retten konnte. Dafür sind wir rückblickend sehr dankbar.”
Die Herausforderungen und Krisen stehen aber bei dem Jubiläum nicht im Fokus. Viel Gutes ist in all den Jahren durch Antonius für viele Menschen in der Region bewirkt worden. Eins der jüngeren Beispiele ist die Stadtwette im Jahr 2015, dank der sich Fulda seither offiziell als „inklusivste Stadt Deutschlands” bezeichnen darf. „Ich kenne keine andere Stadt, die in einer solchen Normalität lebt, wenn es um Menschen mit Behinderung geht”, sagt Sippel ein wenig stolz.
Um dieses Thema künftig auch über die Grenzen Fuldas hinaus fruchtbar werden zu lassen, hat Antonius eine Inklusionsberatung aufgebaut, die Kommunen berät. Viele Bürgermeister haben dieses Angebot bereits in Anspruch genommen. Ihre Frage ist dabei immer die gleiche: Wie kann Inklusion gelingen? Kurz zusammengefasst: „Es geht hierbei immer wesentlich um Begegnungen zwischen Menschen, aus denen dann Beziehungen entstehen”, so Sippel.
Und dass derjenige, der sich auf Begegnungen und Beziehungen einlässt, persönlich profitiert, hat nun eine Studie ergeben, die Antonius gemeinsam mit der Hochschule Fulda zum Jubiläum erstellt hat. Dazu wurden Menschen interviewt, die in direktem Zusammenhang mit Antonius stehen. Die zwanzig Beiträge wurden jüngst in einem Lesebuch veröffentlicht. „Zum Jubiläum wollten wir uns nicht nur auf die Schulter klopfen, sondern uns auch fragen, ob die Wege, die wir gehen, alle als wirksam wahrgenommen werden ”, sagt Sippel.
Die finale wissenschaftliche Auswertung stehe noch aus. Es zeige sich aber bereits, dass die Gesellschaft begonnen hat, zusammenzurücken. „Wir sind schon sehr nah dran an unserer Vision im Sinne unserer Gründerin Maria Rang!” (Lesen Sie auch: Hostel am Frauenberg geplant: Provinzialminister der Franziskaner zu Besuch bei antonius)
Das 120-jährige Jubiläum der Bürgerstiftung Antonius wird am Donnerstag mit einem Dankgottesdienst um 13.30 Uhr in der Fuldaer Stadtpfarrkirche gefeiert, zu dem die Öffentlichkeit herzlich eingeladen ist. Gestaltet wird er durch Stadtpfarrer Stefan Buß, den antonius Seelsorger Pater Thomas, Professor Dr. Cornelius Roth und Dekan Bengt Seeberg. Die musikalische Gestaltung übernimmt der Antonius-Chor. (von Tobias Farnung)