Michael Gutsche aus Fulda war mit Forschern in der Arktis - Expeditionsleiter Rex: „Wir haben dem Eis beim Sterben zugeschaut“
Zwölf Monate lang driftete der Deutsche Forschungseisbrecher „Polarstern“ mit dem Eis durch die unendlichen Weiten der Arktis und war das Herzstück der größten Wissenschaftsexpedition aller Zeiten – MOSAiC. Heute wird die „Polarstern“ zurück in Bremerhaven erwartet.
Nicht für möglich gehaltene Herausforderungen an alle Expeditionsteilnehmer machen diese Mission im Rückblick zu einem Jahrhundertereignis. Mehr als einmal stand die Fortführung der Expedition auf des Messers Schneide und führte Leitung und Teilnehmer an organisatorische und mentale Grenzen. Das erste Mal im Februar, als es phasenweise unmöglich erschien, sich mit dem russischen Eisbrecher Kapitan „Dranitsyn“ zu der bereits seit Monaten im Eis eingeschlossenen „Polarstern“ vorzukämpfen, um den Austausch von Expeditionsteilnehmern und die Versorgung der „Polarstern“ sicherzustellen.
Fuldaer Fotograf Michael Gutsche war mit Forschern in der Arktis
In buchstäblich letzter Minute und mit gerade noch ausreichenden Spritreserven gelang das äußerst anspruchsvolle Unterfangen. Nur noch 90 Seemeilen vom geographischen Nordpol entfernt kam es mitten im arktischen Winter zum Rendezvous beider Schiffe – ein „Weltrekord“ in der arktischen Seefahrt.

Der weltweite Corona-Lockdown im Frühjahr stellte dann völlig unerwartet die Expeditionsleitung vor eine nahezu unlösbare Aufgabe. Wie sollte der nächste Austausch von Crew-Mitgliedern und Wissenschaftlern bewerkstelligt und die weitere Versorgung der Expedition sichergestellt werden? Der gesamte internationale Flug- und Schiffsverkehr war zum Erliegen gekommen, massive Reisebeschränkungen und Quarantänebestimmungen verschärften die Lage. Es erschien auf den ersten Blick ausgeschlossen, eine derartige Mammut-Expedition mit rund 600 Teilnehmern aus 20 Nationen weiterzuführen. Doch MOSAiC wurde international als systemrelevant eingestuft. Expeditionsleitung und alle Verantwortlichen arbeiteten in dieser kritischen Phase Tag und Nacht an Alternativplänen und schafften schließlich, mit politischer Unterstützung, das Unmögliche.
Der Autor
Der Autor nahm zwischen Januar und April an der MOSAiC-Expedition teil. Für den Fuldaer Fotografen war es eine der spannendsten Phasen der Expedition, geprägt von Unsicherheit, eisigen Temperaturen, aber auch unglaublichen Lichtverhältnissen. Seine Fotografien gingen um die Welt, in Zusammenarbeit mit dem Alfred-Wegner-Institut sind weitere Veröffentlichungen und Ausstellungen geplant.
Die Expeditionsteilnehmer hatten in den Wintermonaten mit Schneestürmen und gefühlten Temperaturen bis minus 58 Grad Celsius zu kämpfen, im Sommer hingegen sahen sie sich mit einer der geringsten Eisbedeckungen, die jemals in der Arktis gemessen wurden, konfrontiert.

Expeditionsleiter Markus Rex: Wir haben dem Eis beim Sterben zugeschaut
Warum sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse von MOSAiC für uns alle so wichtig? Laut Expeditionsleiter Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut hat sich keine andere Region der Erde in den vergangenen Jahrzehnten so schnell erwärmt wie die Arktis. Sie ist damit zum Epizentrum der globalen Erwärmung geworden. Die Arktis ist eng gekoppelt an das Wettergeschehen in unseren Breiten. Unser Wetter und Klima werden schon heute von den Klimaveränderungen in der Arktis beeinflusst. Eine korrekte Vorhersage für unser Klima ist nur dann möglich, wenn wir zuverlässige Prognosen für die Arktis bekommen. Hierzu fehlten bisher die Messdaten, doch die MOSAiC-Expedition konnte diese Lücke schließen. Die Auswertung und Modellierung der Expeditionsergebnisse wird Jahre in Anspruch nehmen, aber zu einem Durchbruch im Verständnis des globalen Klimasystems führen. (Michael Gutsche)

Woher kommt der Name MOSAiC?
Der Name MOSAiC steht für „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“, übersetzt heißt das so viel wie „Multidisziplinäre treibende Beobachtungsstation zur Erforschung des Klimas in der Arktis“. Um die „Polarstern“ wurde über weite Phasen der Expedition auf dem Eis eine ganze Forschungsstadt unterhalten, mit einem Netzwerk aus Messstationen teilweise bis zu 50 Kilometer entfernt, die mit den bordeigenen Helikoptern angeflogen wurden. Für Michael Gutsche hat der Name MOSAiC eine Doppelbedeutung. „Die Ergebnisse und Erkenntnisse der Expedition werden sich erst nach und nach zu einem großen MOSAiC zusammenfügen.“
Wer steht hinter der Expedition?
Die Unternehmung wurde vom deutschen Alfred-Wegener-Institut (AWI) geplant und geführt, war aber eine internationale Expedition. 20 Nationen beteiligten sich. Mit einem Gesamtbudget von 140 Millionen Euro war es die bisher teuerste und logistisch aufwendigste Expedition in die zentrale Arktis. Fast 600 Menschen aus allen Ecken der Welt waren etappenweise an Bord.
Wie lief das Unternehmen ab?
Herzstück der Expedition war der deutsche Forschungseisbrecher „Polarstern“, der sich im September 2019 an einer Eisscholle festfrieren ließ und mit dieser mehrere Monate lang durch die Arktis trieb. Den Polarwinter verbrachten die Forscher dabei nahe dem Nordpol. Ende Juli 2020 zerbrach die Scholle, die „Polarstern“ setzte ihre Fahrt aber noch fort. Forscher und Schiffscrew wurden dreimal getauscht. Die Logistik war angesichts der immensen Entfernungen und der extremen Witterungsverhältnisse enorm. Auf Inseln vor der russischen Arktisküste entstanden Treibstofflager für Helikopter, um die „Polarstern“ in Krisen erreichen zu können.
Welche Probleme gab es durch Corona?
Die Corona-Pandemie stellte die Expedition vor zusätzliche Herausforderungen. Aufgrund der seit Frühjahr geltenden internationalen Reisebeschränkungen brachen die Nachschubwege über die Arktis-Anrainerstaaten zusammen. Ein ergänzendes Messprogramm mit Forschungsflugzeugen entfiel zum Teil, Crew-Wechsel und Nachschublieferungen wurden erschwert. Für die letzte Austausch- und Versorgungsfahrt entschieden sich das AWI und die Bundesregierung zu einem einmaligen Schritt, um einen Abbruch zu vermeiden. Direkt aus Deutschland wurde ein kleiner Verband aus zwei anderen deutschen Forschungsschiffen geschickt.
Gab es Unfälle?
Das Schlimmste sei ein Beinbruch eines Kollegen gleich am Anfang an Bord gewesen, sagt Expeditionsleiter Markus Rex. Dazu kamen kleinere Erfrierungen im Gesicht bei einigen Teilnehmern – bei bis zu minus 58 Grad nichts Ungewöhnliches. Dabei hätte viel passieren können. Begegnungen mit Eisbären gab es auf der Scholle viele. An eine brenzlige erinnert sich Rex: „Der Bär war nur noch 40 Meter vom Eisbärenwächter entfernt.“ Dem Wächter gelang es erst mit einem Schuss knapp über den Eisbärenkopf, das Tier zu verjagen. Auch andere Tiere kamen zu Besuch. Ein Polarfuchs hätte fast das ganze Projekt zum Scheitern gebracht, weil er mit Vorliebe Strom- und Datenkabel anknabberte.
Gibt es bereits Ergebnisse?
Die Auswertung der gesammelten Daten wird noch länger dauern. Doch manche besorgniserregende Entwicklung war mit dem Auge sichtbar. So sagt Expeditionsleiter Markus Rex: „Das Eis am Nordpol war völlig aufgeschmolzen, bis kurz vor dem Pol gab es Bereiche offenen Wassers.“ Dort, wo normalerweise dichtes, mehrjähriges Eis war, sei die „Polarstern“ in Rekordzeit durchgefahren. „Wir haben dem Eis beim Sterben zugeschaut“, sagt Rex.
