MOSAiC-Expedition: Michael Gutsche aus Fulda erzählt in drei Anekdoten von seiner Zeit am Nordpol

Expeditionen sind die letzten Optionen, noch Neues auf dieser Welt zu entdecken. Der Fuldaer Fotograf und Unternehmer Michael Gutsche erzählt drei Anekdoten aus den drei Monaten, die er 2020 nahe dem Nordpol auf einem russischen Eisbrecher und dem Forschungsschiff „Polarstern“ verbrachte.
„Wenn in der Arktis das Salz ausgeht“: „Chefkoch Sven ist vollkommen niedergeschlagen. Generalstabsmäßig wurde die Verpflegung der 100 Wissenschaftler und Besatzungsmitglieder geplant, die einzelnen Lebensmittel minuziös berechnet, alleine vier Tonnen Kartoffeln gebunkert.
Und nun ist ihm das Salz ausgegangen. Für einen exzellenten Koch wie Sven – er hat in den großen Hotels von St. Moritz seine Kochkunst erlernt – ein kleiner Weltuntergang. In seiner Verzweiflung sucht er Zuflucht bei den Meereswissenschaftlern. Nicht ganz uneigennützig bieten sie Sven ihre Hilfe an.
So ein Ozeanograf ist ja ein halber Chemiker. In Kürze wird – ohne großes Aufsehen – im Labor der Prototyp einer kleinen Meerwasserentsalzungsanlage entwickelt, und sie funktioniert auf Anhieb. Meerwasser gibt es ja in Hülle und Fülle. In diesem Moment gab es wohl auf der ganzen Welt keinen glücklicheren Koch als Sven!“
Michael Gutsche, Fotograf aus Fulda, war bei der MOSAiC-Expedition am Nordpol dabei
„Allein in unendlicher Stille“: „Igor, der russische Wissenschaftler aus Sankt Petersburg, war mir gleich am ersten Tag aufgefallen: absolut kälteresistent und expeditionserprobt. In seiner Seele ist er verschmolzen mit der Arktis und den Herausforderungen auf dem Eis. Daneben ein sehr feinsinniger Mensch, Musikliebhaber der russischen Klassiker um Prokofjew und Rachmaninow.
Mit Igor zusammen ging ich bevorzugt auf das Eis. Bei fast jedem Wetter entfernten wir uns mit den Motorschlitten so weit von der „Polarstern“ wie kein anderes Team. Das ermöglichte einmalige Fotodokumente, und ich wusste, wenn jemand rechtzeitig in dieser Eiswüste einen herannahenden Eisbären erkennen würde, dann Igor.
Zur Person: Michael Gutsche
Michael Gutsche nahm zwischen Januar und April an der MOSAiC-Expedition teil. Für den Fotografen aus Fulda war es eine der spannendsten Phasen der Expedition, geprägt von Unsicherheit, eisigen Temperaturen, aber auch unglaublichen Lichtverhältnissen. Seine Fotografien gingen um die Welt, in Zusammenarbeit mit dem Alfred-Wegner-Institut sind weitere Veröffentlichungen und Ausstellungen geplant.
So waren wir auch Anfang April wieder gemeinsam mit dem Motorschlitten und zwei deutschen Wissenschaftlern zu einer acht Kilometer entfernten Messstation aufgebrochen. Die Wettervorhersage war für diesen Tag perfekt, keine Wolken, nur wenig Wind und angenehme minus 28 Grad. Die perfekten Voraussetzungen für einen außergewöhnlichen Ausflug.
Schon am Vorabend bat ich den Chef-Scout aus Spitzbergen, der für die Sicherheit auf dem Eis die Hauptverantwortung trug, um Erlaubnis, nach meinen Fotoarbeiten von der Messstation alleine auf Tourenskiern zur Polarstern zurückzukehren. Ich hatte für das Gespräch extra den zwei Mal wöchentlich stattfindenden Bar-Abend gewählt, und nach einigen Bierchen willigte er tatsächlich und wider Erwarten ein. So stand ich anderentags auf meinen Skiern – ganz am Horizont als winziger Punkt die Polarstern – und schon ging es los.
Video: Ein Jahr im ewigen Eis - „Polarstern“ bricht zur Expedition MOSAiC gen Nordpol auf
Für meine Sicherheit sorgte ein großkalibriges Gewehr auf dem Rücken, eine Signalpistole und ein Funkgerät. Unzählige Presseisrücken lagen vor mir, die mit der tiefstehenden Sonne lange Schatten warfen. Meine Augen scannten permanent die Umgebung, manchmal krachte das Eis und dann wieder diese unendliche Stille.
In jeder Sekunde muss man auf einen Eisbärenkontakt vorbereitet sein, auch wenn die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch ist. Der erhöhte Adrenalinspiegel schärft die Aufmerksamkeit. In diesen Momenten fühlte ich mich tatsächlich alleine – am Ende der Welt.“
Michael Gutsche aus Fulda erzählt von der MOSAiC-Expedition am Nordpol
„Rosenmontag am Nordpol“: „Mer losse d´r Dom en Kölle, denn do gehööt hä hin“ dröhnt es aus zahlreichen Kehlen amerikanischer und europäischer Wissenschaftler. Der Rosenmontag 2020 verfolgt mich scheinbar bis an das Ende der Welt.
Unter fachkundiger Anleitung von Dieter, dem Kameramann der UFA und Urgestein der rheinländischen Karnevalsszene, übt man sich in „köllscher“ Mundart. Heute ist Rosenmontag der 24. Februar 2020 und Bar-Abend! Wir brechen uns gerade mit dem russischen Eisbrecher Kapitan Dranistyn durch das immer dicker werdende Eis der Zentral-Arktis, auf dem Weg zur „Polarstern“.

Unsere Position 88° Nord, noch 200 Seemeilen vom geografischen Nordpol entfernt. Die Situation wirkt bizarr, und dieser Eindruck verstärkt sich, als ich nach netten Gesprächen und ein paar Bier die Bar verlasse. Eine Etage höher stoße ich in der Kantine auf eine merkwürdige Gruppierung chinesischer und iranischer Doktoranden mit ihren Laptops. Man spielt ein virtuelles War Game mit dem Namen „Counter Strike“, in dem man sich gegenseitig erschießt, wobei es mit Kopfhörern und guten Bildschirmen für die Beteiligten scheinbar sehr reell wirkt.
Ich gehe noch ein paar Etagen höher und lande kurz vor Mitternacht auf der Brücke, von der aus der russische Kapitän in einer spektakulären Rammfahrt mit den meterdicken Eismassen der Arktis kämpft. Der Blick aus dem Fenster erscheint mir in diesem Moment genauso unrealistisch wie die „Counter Strike“-Szenen. Die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verschwimmen. Diesen Rosenmontag werde ich so schnell nicht vergessen!”