„Momentan sind wir nur an einem Vormittag pro Woche in der Innenstadt unterwegs, aber der Bedarf ist höher“, sagt Sina Orthofer über das Aidshilfe-Projekt „Sidewalk“, dem sie gerne mehr Stunden ihrer Arbeitszeit widmen würde. Denn pro Einsatz versorgen sie und Kollegin Simone zwischen 12 und 20 Personen mit sauberen Nadeln und Spritzen – und es werden immer mehr Betroffene, die sich den beiden Frauen gegenüber öffnen.
„Am Anfang mussten wir die Leute ansprechen und unser Anliegen erklären, viele waren skeptisch – mittlerweile kommen die Menschen von selbst auf uns zu und sprechen uns an“, sagt Orthofer nicht ohne Stolz. Denn das Projekt Sidewalk ist „ihr Baby“: Sie hat es initiiert und bereits viel Arbeit und Herzblut investiert.
Unterstützt sie damit nicht eigentlich den Drogenkonsum der Menschen? „Konsumiert wird sowieso – wir geben den Leuten die Möglichkeit, es sauber zu tun und sich nicht mit gefährlichen Krankheiten anzustecken“, erklärt die Sozialarbeiterin. „Wir akzeptieren, dass Leute Drogen konsumieren – für unsere Unterstützung stellen wir keine Anforderungen und keinen Abstinenzanspruch. Wir holen die Klienten dort ab, wo sie gerade stehen.“
Im Fokus steht Hilfe zur Selbsthilfe: Auf Wunsch vermitteln die Frauen drogenkonsumierende Menschen an die in Fulda bestehenden Hilfsangebote weiter, zum Beispiel an das Diakonische Hilfswerk, einen Substitutionsarzt oder die Selbsthilfegruppe Connection, welche Simone Schafnitzel leitet. (Lesen Sie auch: Fahrlässiger Drogen-Handel? Anklage gegen Inhaber von Nutzhanf-Firma - Ministerin sagt Besuch ab)
Auch die Stadt Fulda unterstützt die Initiative der Aidshilfe Fulda: „Als Stadt sehen wir das Projekt nicht ausschließlich und vorrangig unter dem Aspekt des Drogengebrauchs, sondern für uns ist es vor allem ein niedrigschwelliges Kontakt- und Beratungsangebot für Menschen, die de facto auf der Straße leben, die entweder wohnungslos oder obdachlos sind oder davon bedroht sind“, sagt Magistratspressesprecher Johannes Heller.
Aus Sicht der Stadt stelle das Projekt Sidewalk aktuell das einzige aufsuchende Angebot für Menschen mit Sucht- und Drogengebrauch in der Region dar. „Ziel ist die Kontakt- und Beziehungsarbeit, um die Betroffenen, die aus der Spirale der Not herauskommen wollen, an geeignete Fachstellen anderer Träger zu verweisen beziehungsweise dorthin zu begleiten.“
Konsumiert wird sowieso – wir geben den Leuten die Möglichkeit, es sauber zu tun und sich nicht mit gefährlichen Krankheiten anzustecken.
Seit fast zwei Jahren sind die beiden Frauen von der Aidshilfe jeden Montagvormittag unterwegs. „Im Winter war es richtig kalt – seit Sidewalk besitze ich Skiunterwäsche“, erzählt Sina lachend, als sie ihre Tour in Richtung Bahnhof fortsetzt. Auf dem Weg zeigt sie auf einen kleinen Park – „da sitzen auch immer mal welche – vor allem im Sommer“. Die Sozialarbeiterin kennt die Betroffenen und ihre Ecken mittlerweile gut.
Am Bahnhof wärmen die beiden Frauen sich bei einem Becher Kaffee auf. Dabei unterhalten sie sich mit Betroffenen, die nach und nach zu ihnen stoßen. Sie wissen, dass sie Sina und Simone montags um diese Zeit am Bahnhof antreffen können. Anders, als man erwarten könnte, geht es in den Gesprächen nicht nur um Drogen und Konsum. Sie sprechen über aktuelle Themen wie den Ukraine-Krieg, aber auch über private Dinge. So erzählt ein junger Mann Sina stolz von seiner neuen Wohnung, die er mit seiner Freundin renoviert hat.
Als die Gruppe sich zum Rauchen nach draußen begibt, gesellen sich weitere Menschen zu ihnen. „Zigaretten sind Türöffner – sie verschaffen uns einen Zugang zu den Betroffenen“, erklärt Sina. Doch die Zigaretten sind nicht allein der Grund, weshalb die Menschen immer wieder zu Sina kommen. Die 25-Jährige bietet ihnen ein offenes Ohr, Akzeptanz und Unterstützung an.
„Ich habe Sina kennengelernt, als sie mir geholfen hat, meinen Hund zu behalten. Er sollte mir weggenommen werden, weil er angeblich gefährlich ist“, erzählt ein Mann. „Man möchte Sina am liebsten mit nach Hause nehmen“, sagt eine andere Klientin grinsend. Immer wieder stoßen Menschen zu der Gruppe rund um die junge Sozialarbeiterin dazu, wechseln ein paar Worte miteinander und ziehen dann weiter. Nebenbei hilft Sina mit behördlichen Dokumenten.
In der Serie „Berufen zum ....“ stellen wir Berufe vor, die eher eine Berufung sind, und stellen den Alltag der Menschen vor, die sich berufen fühlen. Im ersten Teil der Serie ging es um den Beruf des Polizisten. Alina Komorek war nachts auf Streife mit zwei Beamten der Fuldaer Polizei. Im zweiten Teil der Serie begleitete Sophie Brosch einen Landwirt bei seiner Arbeit. Uwe Müller de Vries hat dabei unter anderem verraten, wie das Wetter seine Arbeit beeinflusst.
Der dritte Teil der Serie befasste sich mit dem Beruf des Profifußballers. Celina Lorei besuchte einen Tag Kenan Mujezinovic vom FSV Frankfurt. Im vierten Teil der Serie hat Noél Urner den Pfarrer Togar Pasaribu besucht. Außerdem erhielt Leon Weiser im fünften Teil der Serie Einblicke in die Arbeit von Richter Carsten Schütz, der verrät, dass ihn ein Fall lange begleitet hat. Im sechsten Teil der Serie erhielt Volontärin Alina Komorek Einblicke in die Arbeit einer Hebamme. Im siebten Teil der Serie berichtete Landschaftsgärtner Marcel Waber von seiner Arbeit. Im achten Teil war Alina Komorek einen Tag lang mit Markus Schäfer unterwegs, der seit 37 Jahren Lkw-Fahrer aus Leidenschaft ist.
„Die Drogenszene in Fulda ist gesittet, bisher ist mir hier keine starke Gewalt begegnet. Die Leute passen hier sogar aufeinander auf“, berichtet die 25-Jährige, die bereits andere Erfahrungen gemacht hat. „In Frankfurt zum Beispiel kümmert sich jeder nur um sich selbst und darum, wie er an den nächsten Schuss kommt.“
Die Ärztliche Suchthilfe in Fulda behandelt etwa 150 Patientinnen und Patienten aus dem Landkreis Fulda, wie deren Leiter Michael von Kürten sagt. Die Aufnahme in das Substitutionsprogramm erfordere eine mindestens zweijährige „Drogenkarriere“. Die Wartezeit betrage derzeit etwa drei Monate.
„Wer sich nicht an die Hausordnung (zum Beispiel Verzicht auf Gewalt) hält, kann genauso ‚rausfliegen‘ wie jemand, der fortgesetzten Beigebrauch von unerlaubten Drogen oder Alkohol zeigt“, erklärt von Kürten. Bei der Substitution bekommen die Patienten ein Medikament (Ersatzstoff) verabreicht, das ihre Entzugserscheinungen lindern soll. Ziel des Programms sei neben Suchtmittelfreiheit auch die Verbesserung des Gesundheitszustandes und der sozialen Situation von Betroffenen.
Dieses Ziel verfolgt auch Sina Orthofer, indem sie die Betroffenen vor Ort aufsucht und unterstützt. Um zwölf Uhr mittags endet ihre Tour durch die Innenstadt. An diesem Montag hat sie zehn Safer-Use-Päckchen herausgegeben und einige gute Gespräche geführt. Besonders die Wertschätzung und Dankbarkeit der Menschen geben der Sozialarbeiterin viel zurück, wie sie sagt. Denn: „Jeder Montag ist ein erfolgreicher Montag.“