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Virologe Hendrik Streeck zur Corona-Lage: „Wir schwimmen in einer Variantensuppe“

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Von: Bernd Loskant

Virologe Hendrik Streeck
Virologe Hendrik Streeck spricht im Interview über die aktuelle Corona-Lage in Deutschland (Archivbild). © Rolf Vennenbernd/dpa/Archivbild

Der Bonner Top-Virologe Hendrik Streeck spricht im Interview mit der Fuldaer Zeitung über die aktuelle Corona-Lage in Deutschland. Eine „Killervariante“, sagt er, sei nicht in Sicht. Die Maskenpflicht im Zug hält Streeck für nicht zielführend.

Inzidenz, Hospitalisierung, R-Wert: Alle Parameter deuten derzeit nicht auf einen weiteren heftigen Corona-Winter hin. Können wir in diesem Jahr unbeschwert den Advent genießen, auf Weihnachtsmärkte und Weihnachtsfeiern gehen?

Wir befinden uns gerade in einer schwer greifbaren Übergangsphase von einer Pandemie zur Endemie. Und da sollte man auf der einen Seite achtsam sein und rücksichtsvoll miteinander umgehen. Aber: Wir haben so viel erreicht in den letzten drei Jahren, dass wir in meinen Augen getrost auf Weihnachtsfeiern und Weihnachtsmärkte gehen können.

Was genau meinen Sie mit „achtsam und rücksichtsvoll miteinander umgehen“? 

Um es klar zu sagen: Wenn man sich krank fühlt, ist es geboten, zu Hause zu bleiben. Und wenn es einem nicht gut geht und man trotzdem einkaufen gehen muss, dann sollte man das mit Maske machen. Unser Verhalten danach richten, wie wir uns fühlen und uns so verhalten, wie wir es von unseren Mitmenschen gerne haben – auch ohne, dass alles gesetzlich bestimmt ist, das ist das Gebot der Stunde. Es wäre schön, wenn wir auf diese Weise zu einer anderen Umgangskultur kämen.

Corona: Virologe Hendrik Streeck ist gegen Maskenpflicht im Zug 

Sie sagten eingangs, dass wir uns gerade in der Übergangsphase von der Pandemie zur Endemie befinden. Stiko-Chef Mertens hat schon das Ende der Pandemie ausgerufen – was von manchen so interpretiert wurde, als seien wir übern Berg. Ist das nicht eine gefährliche Debatte?

Die Problematik liegt tatsächlich in der Definition der Endemie, die auf dieses Virus streng genommen nicht gut anwendbar ist. Denn wir sprechen bei einer Endemie von einer relativ konstanten Erkrankungszahl als mathematische Größe – und bei Corona sehen wir, dass der Anteil der Menschen, die sich infizieren, durch die Immunität nicht davor gefeit ist, sich wieder zu infizieren. Auch wenn wir das gerne hätten, kann man weder sagen die Pandemie ist ab heute vorbei, noch sagen die Endemie ist bereits eingetreten. Für beides gibt es genügend Argumente. 

Statt einer konstanten oder sinkenden Erkrankungszahl sehen wir in den RKI-Statistiken der letzten Monate Wellen mit massiven Ausschlägen nach unten und oben. Überrascht Sie das?

Ich habe bereits am Anfang der Pandemie gesagt, dass wir uns an eine Dauerwelle gewöhnen müssen mit immer wieder hoch und runtergehenden Infektionszahlen. Ungewöhnlich war allerdings der Ausschlag nach oben in diesem Sommer. Da haben wir täglich 300.000 Neuinfektionen gemessen – mit um das Zehnfache als Dunkelziffer. Wir hatten also jeden Tag Infektionszahlen in Millionenhöhe. Und trotzdem hatten wir keine übermäßige Belastung des Gesundheitssystems.

Können wir daraus etwas über die Mutation des Virus ableiten? Der Bundesgesundheitsminister warnte ja noch Ende Juli vor einer drohenden „Killervariante“.

Es gab und gibt deutliche Anzeichen für neue Virusvarianten – man kann sogar von einer „Variantensuppe“ sprechen, in der wir derzeit schwimmen. Das heißt: Es gibt um uns herum eine Mischsituation von vielen verschiedenen Virusvarianten. Und die deuten alle darauf hin, dass es zu einer sogenannten Immunflucht kommt. Das bedeutet wiederum, dass sich auch kürzlich Geimpfte oder Genesene eher auch wieder infizieren könnten. Killervarianten sind dies alle nicht.

NameHendrik Streeck
FachgebietVirologie
ForschungsstandortUniklinikum Bonn
AufgabenMitglied des Expertenrats der Bundesregierung zu Corona

Heißt das, dass die Impfung nicht mehr wirkt und wir dem Virus wieder schutzlos ausgeliefert sind?

Nein. Wir erleben ja gerade, dass sich die Menschen leichter infizieren, aber es dadurch nicht zu schweren Verläufen kommt. Erklärbar ist das so: Ob BQ.1.1., XBB oder BA.2.75.2 – alle Varianten, die sich nun durchsetzen könnten, zeigen Mutationen an der Oberfläche des Virus am Spike Protein. Das kommt daher, dass Millionen von Immunsystemen weltweit auf dieses Virus ballern – und zwar am häufigsten an dieser einen Stelle an der Oberfläche. Das Virus versucht dem zu entgehen, und es entstehen Immunfluchtvarianten.

Auch wenn wir eine „Variantensuppe“ haben, scheinen die sich alle in die gleiche Richtung zu bewegen. Wir sprechen da von einer „konvergenten Evolution“. Und alle schlüpfen an dieser einen Stelle unter dem Immunsystem hindurch und infizieren die Menschen. Für die Zukunft bedeutet das aber weder, dass die nächsten Varianten krankmachender sind als die aktuellen, noch dass unsere Immunität komplett aufgehoben ist. Der Schutz vor einem schweren Verlauf bleibt gut!

Wo spielt sich das Infektionsgeschehen eigentlich derzeit schwerpunktmäßig ab?

Auch da gibt es keine guten Daten. Wir haben ein sehr diffuses Infektionsgeschehen mit einer Dunkelziffer, die um das Dreifache höher ist als die offiziellen Zahlen. Wir wissen, dass sich viel im Privaten abspielt – und dass es immer mal zu lokalen Ausbrüchen im Zusammenhang mit Volksfesten kommt. Was bedeutet, wenn Menschen auf engem Raum zusammenkommen, gehen die Zahlen nach oben. Und dann auch wieder nach unten, wie man sehr schön am Oktoberfest gesehen hat. 

Zu feiern, Bier zu trinken und „Layla“ zu grölen, ist eben für viele mit Maske im Gesicht keine Option.

Das ist genau das Problem: Alle Laborstudien haben deutlich gezeigt, dass die Maske zur Reduktion des Infektionsgeschehens beitragen kann. Nur hat die Maske einen Nachteil, der häufig nicht bedacht wird: Sie muss dort getragen werden, wo ein hohes Infektionsgeschehen stattfindet. Das klingt banal, doch leider wird die Maske eben nicht dort getragen, wo Infektionsgeschehen stattfindet. 

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Video: Virologe Streeck zur Maskenpflicht

Zum Beispiel auf der Wiesn – oder zu Hause bei einem netten Abend mit Freunden. 

Wir wissen, dass rund 70 Prozent der Infektionen im Privaten stattfinden. Das ist nicht die Übertragung in der U-Bahn oder im Fernzug, so dass dort die Maskenpflicht einen relativ geringen Effekt auf das Infektionsgeschehen hat. Man kann ja die Menschen durchaus ermutigen, dort Maske zu tragen, aber bitte nicht dazu verpflichten. Vielmehr sollte man Leuten, die sich selbst schützen wollen, beibringen, wie man Maske richtig trägt und an welchen Orten die Übertragungen stattfinden.

Das gesamte Interview mit Hendrik Streeck ist in der Printausgabe der Fuldaer Zeitung (17. November) und im E-Paper erschienen. Streeck spricht über aktuelle Studien und äußert sich zum Thema Sterblichkeit. Online erscheint eine gekürzte Fassung.

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