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Kontroverse um „Klima-Kleber“: Erste Bürgermeister verhandeln mit Aktivisten

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Von: Sophie Brosch

Immer wieder kommt es zu Protesten der „Letzten Generation“. Erste Städte stellen sich nun öffentlich hinter die Forderungen der Klimaschützer. Diese stellen dafür ihre umstrittenen Aktionen ein. Kritiker sprechen von Erpressung. 

Hannover/Tübingen/Marburg - Sie kleben sich mit Sekundenkleber auf Straßen, blockieren den Verkehr und beschmieren Fassaden und Denkmäler mit Öl und Farbe: Immer wieder greift die „Letzte Generation“ zu militanten Mitteln, um ihre Forderungen durchzusetzen: die Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets, ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen sowie die Einberufung eines Gesellschaftsrats zu der Frage, wie Deutschland bis 2030 Nullemissionen erreichen kann. Dieser soll im Losverfahren besetzt werden und die Breite der Gesellschaft spiegeln.

Klima-Kleber: Erste Städte stellen sich hinter die Forderungen der Aktivisten

Wenn die Bundesregierung auf ihre Forderungen eingeht, bietet die Klimagruppe einen Stopp ihrer Proteste im ganzen Land an. Nach Hannover und Tübingen schließt sich mit Marburg nun die erste Stadt in Hessen den Forderungen der Klimagruppe öffentlich an. Das teilt Oberbürgermeister Dr. Thomas Spieß (SPD) in einem Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag mit.

Im Gegenzug stellt die „Letzte Generation“ alle Proteste in der Universitätsstadt ein. „Dass innerhalb von so kurzer Zeit nun schon aus drei Städten Forderungen nach einem Gesellschaftsrat für Null-Emissionen bis 2023 bei der Bundespolitik einlangen, zeigt, wie breit die Zustimmung für solch einen Gesellschaftsrat im Land ist“, kommentiert Aktivisten-Sprecherin Solvig Schinköthe die Einigungen.

„Letzte Generation“

Die Ende 2021 gegründete Klimaschutzgruppe hatte am 24. Januar 2022 erstmals in Berlin Autobahnzufahrten blockiert. Danach folgten mit Unterbrechungen fast täglich derartige Blockaden sowie Proteste in Museen, Stadien, an Erdölpipelines oder Flughäfen. Die Aktivisten fordern unter anderem generell die Abkehr von fossilen Energien wie Öl, Gas und Kohle. Ihr Name erklärt sich laut Internetseite wie folgt: „Wir sind die Letzte Generation, die den Kollaps unserer Gesellschaft noch aufhalten kann.“

Immer wieder werden Unterstützer der Gruppe bei Protesten festgenommen, kürzlich wurden erste Aktivisten zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) beobachtet die Klimagruppe, sieht aktuell aber keine hinreichenden Anhaltspunkte, sie als extremistisch einzuschätzen.

Eine Entwicklung, die auch bei einer Mehrheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger auf Zustimmung trifft. Einer Umfrage des ZDF-„Politbarometer“ zufolge begrüßen 55 Prozent Vereinbarungen mit Klimaaktivisten, 41 Prozent halten sie für nicht richtig. Dennoch finden 80 Prozent der Befragten, dass illegale Aktionen von Klimaaktivisten wie die Blockaden von Hauptverkehrsstraßen zu weit gehen, 18 Prozent sehen das nicht so.

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund übt derweil scharfe Kritik an Vereinbarungen einzelner Kommunen mit der Klimagruppe. Es sei „nicht üblich, dass man Straftäterinnen oder Straftätern durch politische Zusagen entgegenkommt“, sagt Geschäftsführer Gerd Landsberg.

Klimakleber
Wenn die Bundesregierung auf die Forderungen der „Letzten Generation“ eingeht, bietet die Klimagruppe einen Stopp ihrer Proteste im ganzen Land an. © Nadine Weigel/dpa

Auch die Rathäuser von Berlin, Hamburg und Köln lehnen einen Handel mit der „Letzten Generation“ ab. „Ich werde dem nicht nachgeben“, sagt Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos). Kollegen, die sich auf Vereinbarungen einlassen, hätten möglicherweise eine andere Vorstellung von demokratischen Prozessen. Das Vorgehen der „Letzten Generation“ sei für die Juristin in vielen Fällen Nötigung.

Grünen-Chefin Ricarda Lang hingegen unterstützt die kompromissbereite Linie einzelner Bürgermeister gegenüber Forderungen der Klima-Gruppierung. Auch die Linke verteidigte die „Letzte Generation“ mehrfach gegen Vorwürfe der Kriminalität. Indes sprechen die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und AfD von Erpressung.

Reaktionen aus der Region

Fulda: In Fulda finden bereits seit mehreren Jahren innerhalb des „Klimadialogs“ Gespräche mit „Fridays for Future“ und seit vergangenem Jahr auch mit dem „Bündnis für Klima und Nachhaltigkeit“ zu unterschiedlichen Themen statt, wie die Magistratspressestelle mitteilt. Dabei stellten sich Oberbürgermeister Dr. Heiko Wingenfeld (CDU) und Stadtbaurat Daniel Schreiner auch immer wieder kritischen Äußerungen und Forderungen.

Auf eine Vereinbarung mit der „Letzten Generation“ würde sich der Fuldaer OB nicht einlassen: „Ein konstruktiv geführter Klimadialog ist in der Sache sicherlich zielführender“, heißt es aus der Pressestelle.

Hünfeld: „Die Themen Klimaschutz und Klimafolgenbewältigung sind für unsere gegenwärtige und zukünftige kommunale Arbeit zentrale Themen“, sagt Hünfelds Bürgermeister Benjamin Tschesnok (CDU). Die „radikalen Forderungen“ der „Letzten Generation“ gingen aus seiner Sicht aber weit über die ökologische und wirtschaftliche Vernunft hinaus. „Hier werden weder die ökologischen, noch die sozialen Folgen solcher Forderungen abgewogen. Mir persönlich sind Ansichten von Menschen häufig suspekt, die sich im alleinigen Besitz der letzten Wahrheit sehen und daraus das Recht ableiten, sich über alles hinwegsetzen zu dürfen“, sagt Tschesnok.

Er kritisiert außerdem, dass der Klimagruppe der Wille fehle, sich mit Argumenten konstruktiv auseinander zu setzen, sowie die Fähigkeit zum Kompromiss. „Ich würde mir wünschen, dass die Aktivisten sich den demokratischen Institutionen stellen würden, um argumentativ zu überzeugen und Mehrheiten im rechtsstaatlichen Rahmen zu organisieren“, meint der Bürgermeister. Die Forderung nach einem Gesellschaftsrat sowie öffentliche Äußerungen zur Abschaffung von Justiz und Polizei hätten ihm gezeigt, dass es vielen Aktivisten weniger um den Klimaschutz ginge, sondern vielmehr um eine „radikale Abschaffung unserer Gesellschaftsordnung“.

Vertreter der „Letzten Generation“ seien bei Tschesnok noch nicht vorstellig geworden. „Ich scheue aber keinen Dialog“, sagt er. Einen Handel mit den Aktivisten, wie ihn andere Bürgermeister in Deutschland bereits eingegangen sind, hält er aber für problematisch: „Wenn das Schule macht, können wir unser rechtsstaatliches und demokratisches Gemeinwesen vergessen.“

Im Jahresbericht 2022 berichtete die Hünfelder Polizei, dass speziell ausgebildete Einheiten der Hünfelder Bundespolizei bei Klimaprotesten des Bündnisses „Letzte Generation“ im Frankfurter Stadtgebiet im Einsatz waren.

Schlüchtern: Bürgermeister Matthias Möller (parteilos) bezeichnet den Klimaschutz als „eine der wichtigsten Aufgaben unseres Jahrhunderts“. Die Stadt Schlüchtern (Kinzigtal) tue selbst viel für den Umweltschutz.

Eingriffe in den Straßenverkehr aber hält Möller für „wirklich gefährlich und grob fahrlässig“. „Dem sollte man einen Riegel vorschieben, damit nicht unnötig Menschenleben gefährdet werden“, sagt der Bürgermeister. Man dürfe auch nicht vergessen, dass die wahren Klimasünder nicht in Schlüchtern, Tübingen oder Berlin zu finden seien: „China, Indien und die USA sorgen zusammen für mehr als 50 Prozent des weltweiten CO₂-Ausstoßes, Deutschland hingegen hat einen Anteil von knapp zwei Prozent.“

Möller würde eine Einigung zu den Bedingungen der „Letzten Generation“ nicht akzeptieren. „Wir lassen uns nicht erpressen. Für einen Dialog sind wir immer zu haben, aber es muss auf beiden Seiten der Wille zu einer gemeinsamen Verbesserung der Situation und auch Verständnis für unterschiedliche Positionen vorhanden sein.“

Diesen Vorwurf weist der Erfurter Rechtsprofessor Tim Wihl zurück, denn die Aktivisten forderten kein Geld. Auch sieht Wihl in den Straßenblockaden oder der Drohung damit keine Nötigung. Zum einen sei der ausgeübte Druck nicht so groß, dass die Kommunen auf Forderungen eingehen müssten. Zum anderen sei es „fraglich, ob das Mittel verwerflich ist“. Denn: „Auch robuste Blockadeaktionen fallen unter das Versammlungsrecht.“

Wenn ein Unternehmen bei bestimmten politischen Rahmenbedingungen mit der Schließung eines Werks drohe, denke auch niemand an Nötigung, meint Wihl. „Das ist für Bürgermeister unangenehm, und sie würden sich wohl mit dem Unternehmen treffen. Ähnlich ist es bei großen Demonstrationen: Sie bauen Druck auf, sich zu treffen. Nichts anderes ist es bei den Blockaden der Letzten Generation.“

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