Wurde die Wirkung der Schulschließungen auf die Eindämmung des Virus überschätzt?
Die Schulschließungen waren sicher eine überzogene Maßnahme. Da herrscht heute Konsens. Die Länder, die diesen Schritt gegangen sind, stehen nicht besser da als Länder, die die Schulen offen gelassen haben. Viele Kinder haben unter sozialen Distanzierungen in besonderem Maße gelitten. Kinder sind eine sehr vulnerable Gruppe. Eine besondere Schutzwirkung, die Schulschließungen rechtfertigen würde, kann ich im Nachhinein nicht erkennen.
Wie konnte es passieren, dass die Wirkung der Impfung so überschätzt wurde?
Das Ja zur Impfung zum Eigen- und Fremdschutz war anfangs sicher ein politisches Frame, auch um Ängste zu bekämpfen. Ich war und bin klar für die Impfung. Aber sie hat, das muss man sehen, unsere hohen Erwartungen nicht erfüllt. Als Immunologe habe ich anfangs geglaubt, dass wir das Problem mit der Impfung allein überwinden. Das ist so nicht eingetreten. Heute wissen wir, dass die Infektion eine noch bessere Immunität hinterlässt als eine Impfung. Und die beste Immunität erzeugt die Impfung in Kombination mit einer Infektion, die sogenannte Hybridimmunität. Hier ist der Schutz vor Ansteckung um den Faktor zehn höher als allein durch Impfungen.
Also bin ich als dreifach Geimpfter, der zudem eine Infektion durchgemacht hat, am besten dran?
Damit haben Sie die beste Immunität, die Sie derzeit haben können, aber das gilt nicht generell für alle. Die persönliche Immunität ist sehr abhängig von Alter und Immunsystem des Betreffenden. Sie muss also für jeden Menschen individuell eingeschätzt werden, um sein Infektionsrisiko zu bestimmen. Das tun wir in der Medizin ja auch bei anderen Risiken, etwa für Herzinfarkt oder Knochenbruch.
Bezogen auf die gesamte Population haben geschätzt 75 Millionen Menschen im Land eine Infektion durchlaufen, 65 Millionen Menschen sind mindestens doppelt geimpft. Das heißt, die meisten haben eine Hybridimmunisierung. Das war der Durchbruch im Kampf gegen die Pandemie im vergangenen Jahr. Hybridimmunisierte haben im Vergleich zu durch Infektion Immunisierten ein achtfach geringeres Risiko für einen schweren Covid-Verlauf.
Wir haben die Pandemie in der Summe besser gemeistert als die meisten anderen Länder.
Dann kann uns also nichts mehr passieren?
International gesehen hat Deutschland eine sehr gute Hybridimmunität erreicht. Blickt man etwa nach Neuseeland, das sich zwei Jahre lang abgeschottet und eine Impfquote von 95 Prozent hat, dann liegt die Covid-Todesrate dort seit Ende des nationalen Lockdowns vor einem Jahr um 50 Prozent höher als hierzulande. Weil die Menschen dort bislang keine Infektionen durchlaufen hatten. Die Erkenntnis daraus: Mit den verfügbaren Impfstoffen allein kann man der Pandemie nicht Herr werden.
Hält diese Immunität ein Leben lang an, oder kann diese wieder schwinden?
Es gibt Immunitäten, die ein Leben lang anhalten, etwa bei Masern. Die Mehrzahl der Immunitäten schwindet jedoch mit der Zeit, so auch die gegen Sars-CoV-2. Das Virus bleibt aber ja in der Welt und unser Immunsystem wird immer wieder mit ihm konfrontiert. Aktuell besteht die Hoffnung, dass diese natürlichen Begegnungen ausreichen, um mit Corona ohne ständige Impfungen zurechtzukommen, wenn man ein leistungsfähiges Immunsystem hat.
Benötigen wir also auch eine neue Impfstrategie?
Ja! Eine individualisierte Strategie. Die Phase der Pandemie, in der eine einzige Maßnahme für alle richtig war, ist vorbei. Jeder muss sein eigenes Risiko abschätzen. Das ist noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen. Das gilt auch beim Masketragen. Der Wegfall der Maskenpflicht bedeutet ja nicht, dass niemand mehr Maske tragen darf. So ist es auch bei der Impfung. Jeder muss für sich abwägen, welche Schutzmaßnahme für sein persönliches Risiko sinnvoll ist.
Ist es sinnvoll, sich auch in Zukunft zu testen, bevor man Angehörige in einem Pflegeheim besucht?
Das wäre eine Konsequenz, die man aus den bisherigen Erkenntnissen ziehen muss. Ein junger Mensch ohne Symptome könnte das Virus übertragen, ohne dass er es weiß. Und wenn jemand sich im Seniorenheim infiziert, hat er immer noch ein hohes Risiko zu sterben.
Den Kindern in Schulen oder Kitas dagegen würde nichts passieren. Hier bleibt also ein Test oder das Tragen von Masken sinnvoll, jedenfalls so lange, bis wir ein endgültiges biologisches Gleichgewicht zwischen Sars-CoV-2 und dem Menschen erreicht haben, also die Pandemie zur einfachen Krankheit geworden ist. Auch dann wird es aber noch Todesfälle geben und wir müssen entscheiden, ob wir dieses Restrisiko akzeptieren, so wie wir das bei anderen Erkrankungen auch tun.
Von Oktober bis Dezember schwappte eine massive Welle von Atemwegserkrankungen durchs Land. Hat das auch mit dem Masketragen zu tun?
Natürlich. Das Immunsystem wurde in der Pandemie durch Masketragen, Distanzierung, Isolation und Lockdowns nicht so trainiert wie in normalen Zeiten. Auch Grippe- und RS-Viren wurden zweieinhalb Jahre lang durch Schutzmaßnahmen ausgebremst. Das Immunsystem hat die nötigen Lektionen zur Virenabwehr daher nicht gelernt und geübt. Die Welle der Atemwegserkrankungen im Herbst war ein gewisser Nachholeffekt, erst bei Kindern und später bei den Erwachsenen. Das führte auch am Klinikum Fulda zu Engpässen in der Notaufnahme und auf der Intensivstation.
Wie ist aktuell die Situation am Klinikum Fulda?
Was Covid-19-Erkrankungen betrifft, haben wir eine vollkommene Entspannung.
Das komplette Interview mit Prof. Dr. Peter M. Kern lesen Sie in der Ausgabe der Fuldaer Zeitung von Samstag, 11. Februar, oder im E-Paper. Online erscheint eine gekürzte Fassung.
Unterm Strich: Sind wir gut durch die Pandemie gekommen?
Wir hatten binnen drei Jahren 166.000 Corona-Todesfälle in Deutschland. Das ist fürchterlich! Ohne Impfstoffe, Immunisierung und die drastischen Notmaßnahmen hätten wir jedoch 500.000 mehr Todesfälle gehabt – und das binnen drei bis vier Monaten. Hier zeigt sich der epochale Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen. Gleichwohl sterben derzeit pro Tag noch über 100 Menschen in Deutschland an Covid.
Und vor dem Hintergrund, dass über zwei Jahre hinweg viele Vorsorgeuntersuchungen weggefallen sind, droht uns in den kommenden Jahren auch eine coronabedingte Krebswelle. Wenn die Zahl der Fälle nur um zehn Prozent steigt, sprechen wir von bis zu weiteren 50.000 Todesopfern. Wie viele Menschenleben die Pandemie gefordert hat, werden wir erst in zehn Jahren bilanzieren können.
Wie drastisch sind die Corona-Folgeschäden?
Psychologische Auffälligkeiten und Defizite bei der Bildung werden wir wohl auch noch in Jahrzehnten in persönlichen Lebensläufen erkennen können. Diese Folgen der Pandemie werden nach einhelliger Meinung der Experten eine langfristige Hypothek darstellen. Das gilt auch für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen.
Wird das Positive, das wir erreicht haben, zu wenig herausgestellt?
Das Publikum scheint schon eine dunkle Sehnsucht nach Weltuntergangsszenarien zu haben. Medien sind sowieso sensationsaffin. Ein gewisser Hang zum Katastrophismus war aber auch bei Experten auffällig in der Corona-Pandemie. Es gibt für sie quasi einen Zwang, düstere Vorhersagen zu treffen. Wenn nämlich die Dinge sich positiv entwickeln, interessieren niemanden mehr die Diskussionen von gestern.
Entwickeln sie sich aber negativ, dann wird die Prognose des Experten überprüft. War sie zuversichtlich, wäre es das Ende dieses Experten. War sie düster, gilt sie als Beweis für seine Kompetenz und er bleibt in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das ist das Prinzip Lauterbach. Auch Virologen haben sich mit negativen Prognosen gegenseitig überboten und Herrn Wieler vom Robert Koch-Institut fand ich mitunter sehr anstrengend.