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Rhöner Platt und Kirmes in Ungarn - vor 300 Jahren wanderten die Stifoller aus

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Von: Sabrina Mehler

Fulda: Lokales Stifoller Auswanderer Ungarn Stift Fulda
Rund 100 Jahre alt sind die Fotos, die Wendelin Priller von den Süd-Ungarn erhalten hat und die das Leben der Stifoller zeigen. © Archiv Winfried Priller, Rasdorf

Sie heißen Fladung oder Auth, sprechen Rhöner Platt und tanzen alljährlich unterm Kirmesbaum: Vor 300 Jahren sind die Stifoller aus dem Hochstift Fulda nach Ungarn ausgewandert. Bis heute haben sich – 1100 Kilometer fern der alten Heimat – Sitten, Gebräuche und Sprache erhalten.

Fulda/ Ungarn - Die erste große Auswanderungswelle gen Osten begann 1722 – vor exakt drei Jahrhunderten, als das Fuldaer Land nach dem 30-Jährigen und dem 7-Jährigen Krieg von wirtschaftlicher Not gebeutelt war. Kein Wunder, dass damals junge Männer und ganze Familien das Glück in der Ferne suchten.

Da kamen die Werbungsversuche der Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn, Maria Theresia, gerade recht. In Ungarn sollten Einwanderer die nach den Türkenkriegen zerstörten und menschenleeren Landstriche wiederbesiedeln. Als Anreiz lockten Grundbesitz und Steuererleichterungen.

Fulda: Stifoller wanderten aus wirtschaftlicher Not nach Südungarn aus

Die Wirtschaftsflüchtlinge kamen in Scharen: aus Schwaben, Bayern, Franken und anderen deutschen Landen. Und aus dem Hochstift Fulda, erklärt der Rasdorfer Wendelin Priller, der sowohl in der heimischen als auch in der Geschichte der Stifoller bewandert ist.

„Vermutlich wanderten die Stifoller – die ihren Namen dem Stift Fulda verdanken – über Regensburg aus und schipperten in kleinen Kähnen wie der Ulmer Schachtel die Donau flussabwärts in die neue Heimat, wo sie auf längst verlassene Dörfer aufgeteilt wurden“, erklärt Priller.

1722 schlossen die Siedler einen offiziellen Vertrag mit dem Bischof von Fünfkirchen über die Ansiedlung, Landnutzung und Steuerbefreiung. Während sich im Hochstift Fulda der Fürstbischof ob des Massenexodus’ erboste, „Abzugsgeld“ verlangte und irgendwann Emigrationsverbote verhängte, entwickelten sich im Süden Ungarns rund 20 kleine Orte rund um das Zentrum Fünfkirchen, darunter Himeshaza, Feked und Püspöknadasd.

„Es waren nicht die Dümmsten, die nach Ungarn gekommen sind“, berichtet Priller. Einfach hatten es die Stifoller, die als Bauern oder Handwerker ihr Brot verdienten, aber nicht. Nicht umsonst lautete ein gängiger Kolonistenspruch im Ungarn des 18. Jahrhunderts: „Die ersten fanden den Tod, die zweiten hatten die Not, und die dritten erst das Brot.“

Schon von Anfang an wurden die Siedler aus dem Hochstift als Stifoller bezeichnet, doch der Überbegriff aller deutschen Migranten lautete Donauschwaben – und im Laufe der Jahrzehnte geriet in Vergessenheit, für was der Name Stifoller eigentlich steht und woher die Vorfahren einst gekommen waren. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts zwei Ereignisse zusammentrafen.

Auswanderer aus Fulda führen Traditionen in Ungarn fort

Einem Institut für Auslandsdeutsche in Budapest fiel im Zuge von Forschungsarbeiten die sonderbare Mundart der Stifoller auf, die mitnichten dem Schwabenland zugeordnet werden konnte: Wer verwendet für ein Zahlwort schon drei verschiedene Ausdrücke: zwee, zwu und zwa? Nur wenig später entdeckte der Petersberger Konrektor Johannes Hack im Zuge von Forschungen, dass Fuldaer vor Jahrhunderten nach Ungarn emigriert waren.

Er nahm Kontakt auf, schrieb Briefe, berichtete in den Buchenblättern. Doch der Kontakt brach in den Wirren dieser Zeiten wieder ab, die Geschichte der Stifoller verschwand erneut aus dem Bewusstsein der Menschen in beiden Ländern – in Ungarn auch deshalb, weil die Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg in Bedrängnis gerieten. (Lesen Sie auch: Stadt Fulda ändert Namen der Danzebrink-Straße: Jetzt kommt Amöneburg aufs Schild)

Es sollte wieder Jahrzehnte dauern, bis schließlich Wendelin Priller in einer Rasdorfer Chronik stöberte, Auswandererberichte las und beschloss, die Nachfahren in Ungarn zu suchen. 1982 war das, als er und Freunde die vielen Gemeinsamkeiten zwischen Stifollern und Fuldaern entdeckten.

Noch im selben Jahr wurde der Stifoller Freundeskreis gegründet. Schon ein Jahr später reiste Priller mit fast 80 weiteren Menschen aus dem Fuldaer Land an, um die Ungarn kennenzulernen, die die gleichen Namen trugen und ähnlich redeten, wie sie selbst. „Noch heute gibt es dort ein intaktes fuldisches Leben“, erklärt der Rasdorfer.

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Den Brauch der Kirchweih haben die Stifoller aus der alten Heimat mitgebracht. © Archiv Winfried Priller, Rasdorf

Die Stifoller tragen bis heute die Namen ihrer Ahnen, darunter Auth und Fladung, Wingenfeld und Leinweber, Trott und Hohmann. Sitten und Bräuche ähneln sich: Die Stifoller feiern Kirmes, zünden am Hutzelsonntag Feuer an und binden an Maria Himmelfahrt Kräutersträuße. Sie essen Schwartenmagen.

Genauso wie die Stifoller Wurst: eine Cervelatwurst, die der Fuldaer Johann Pappert 1766 mitgebracht und für den ungarischen Geschmack mit scharfem Paprika verfeinert haben soll. „Und sie sprechen einen Dialekt, den es außer in der Rhön sonst nirgendwo auf der Welt gibt“, sagt Priller. Doch hüben wie drüben lernen immer weniger junge Leute Platt: „Es ist schade, dass damit ein Stück Kultur verlorengeht.“

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Die Freundschaft zwischen Ungarn und Deutschen hingegen verfestigt sich stetig; der Freundeskreis bemüht sich sehr: Schon in den 1980er Jahren hatte er etwa bei der Renovierung einer Kirche mitgeholfen. Seitdem ist der Austausch von Musikvereinen, Schülern, Kirmesgesellschaften, politischen Gremien und anderen Vereinen rege. (Lesen Sie auch: „Bekennt euch zur Muttersprache“ - Neues Mundart-Buch von Eberhardt Lauer)

Seit 1989 besteht sogar eine offizielle Freundschaft zwischen dem Ort Himeshaza, auch Nimmersch genannt, und Rasdorf. Erst kürzlich feierten beide Orte in Ungarn das 300. Jubiläum der früheren Auswanderer. Und auch innerhalb der Stifoller-Orte hat sich viel geändert: „Nachdem wieder bekannt wurde, woher die Stifoller kamen, hat sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine eigene fuldische Identität entwickelt.“

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