Im Sommer 1936 wurde Rudolf Heuschkel geboren – aber nicht in seinem Elternhaus, wie damals üblich. Der Grüne Baum war durch die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ voll belegt: „Ich wurde in der Ringstraße Nummer 50 geboren. Frau Blum, die Patentante meiner Mutter, hatte ein Zimmer für die Geburt hergerichtet.“
Das Elternhaus und die Grimmstadt sollten für den nun 85-Jährigen auf Jahre keine Rolle spielen. Der Grund: Sein Vater Fritz machte im Reichsarbeitsdienst Karriere, und bei jeder Versetzung zog die Familie mit ihm weiter: „Wir waren ein Vierteljahr auf der Insel Sylt, dann in Posen, an der Weichsel und schließlich in Jägerndorf im Sudetenland, wo ich in die Schule gegangen bin.“
Prägend war für den Jungen „ein Volltreffer von Fliegerbomben. Ich stand unter einem Türsturz im Keller, der einstürzte, und bis zur Hüfte im Schutt. Meine Mutter war draußen und wurde von einem Glassplitter im Bein getroffen.“ An diesen erinnert sich auch der Enkel: „Als Junge war ich verblüfft, da der Splitter im Bein der Oma gewandert ist.“
Kurz bevor Heuschkels im Februar 1945 zurück nach Steinau kamen – hätte beinahe auch der Grüne Baum in Schutt und Asche gelegen: Eine Bombe traf das benachbarte Bauratshaus, in dessen Luftschutzkeller 14 Kinder und drei Erwachsene umkamen. Das „stabile eichene Fachwerk des Grünen Baum hat dem Luftdruck der Bombe standgehalten. Nur einige Lehmfächer sind rausgefallen, die ausgemauert wurden“.
Nach Kriegsende war der Gasthof von den Amerikanern beschlagnahmt. Für den jungen Heuschkel war das eine „recht angenehme Zeit. Im Hof stand eine Großküche. Soldat Bill hat mich mitgeschleift und mir allerhand zugesteckt. Ende der 70er Jahre hat er mich besucht.“
Dann dürfte Bill erfahren haben, dass sein Gastgeber als junger Mann einige Jahre in Nordamerika gelebt hat. Genau genommen in der kanadischen Provinz Ontario, zunächst in Hamilton im Süden und schließlich 700 Kilometer nördlich der Metropole Toronto. Dort hat er in einer Uranmine gearbeitet und so gut verdient, dass er eines Tages „mit der America nach Deutschland gefahren“ ist, um „meine Mutter an ihrem Geburtstag zu überraschen“.
Statt wie geplant wieder über den Großen Teich zu ziehen, gründete Heuschkel eine Familie. Bei der Firma Wibau fand er Beschäftigung, wurde Leiter der Lehrwerkstatt – und schließlich ab 1967 hauptberuflicher Gastronom.
Damals „fing es an mit Essen im Gasthaus. Vorher gab es nur Würstchen. Nun war meine Mutter die Küchenchefin. Jägerschnitzel und Rumpsteak waren ihre Spezialitäten. 1978 habe ich den ersten Koch eingestellt. Mitte der 80er Jahre einen neuen – Elmar Hutzenlaub. Er ist jetzt mein Schwiegersohn.“ In den 70er Jahren habe es „in Steinau 25 Kneipen gegeben, einschließlich Thalhof, Fronhof, Mooshecke und Brathähnchenfarm“, sagt der Senior und der Junior ergänzt: „Heute sind es nur noch eine Handvoll.“
Damals sei „jeden Abend Betrieb gewesen, so 20 bis 25 Leute. Um 1 Uhr war Polizeistunde.“ Ein Grund, Feierabend zu machen war das allerdings nicht. 1987 „kam ich auf die Idee, groß zu bauen. Meine Tochter hatte Hotelfachfrau gelernt und einen Koch geheiratet. Aber da habe ich mich zu weit aus dem Fenster gelehnt“, räumt der 85-Jährige ein. Der Grund: Das junge Paar wanderte in den 1990er Jahren in die USA aus.
Eingesprungen ist sein Sohn Richard, Kennys Vater. Als Richard 2003 während einer Tour mit dem Mountainbike einem Herzschlag erlag, war das für die Familie ein Schock. Der Gasthof wurde einige Jahre verpachtet, dann führte ihn Kennys Mutter Sonja einige Zeit, ehe mit Rita Neuhold ein Pachtvertrag geschlossen wurde.
Richards Tod sollte nicht der letzte Schicksalsschlag bleiben: Seine Witwe Sonja starb 2019. Die Kinder Amy und Kenny schlugen das Erbe des Gasthauses aus, das daher ans Land fiel. Ihnen blieb das Grundstück. Beides geht nun in andere Hände über – und für den Grünen Baum beginnt wohl eine neue Zukunft.