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Ein Jahr nach Anschlag in Hanau: Viele offene Fragen - Angehörige der Opfer berichten in Podcast über Tat
- vonDaniel Krenzerschließen
Vor einem Jahr hat Tobias R. aus einer zutiefst rassistischen Weltanschauung heraus neun junge Leute in Hanau aus dem Leben gerissen. Doch nicht nur der Verlust der geliebten Menschen schmerzt die Angehörigen. Viele Fragen sind bis heute offen.
Hanau - Hätte die Tat in Hanau verhindert werden können, da es im Internet klare Warnzeichen für eine Radikalisierung des Täters gab? Warum durfte der 43-Jährige, der laut Ermittlungen nach seiner Amoktour auch seine Mutter und schließlich sich selbst umbrachte, dennoch Waffen besitzen? Welche Fehler sind seitens der Polizei begangen worden? Und wie lässt sich ein solches Grauen zukünftig verhindern? Diese und viele weitere Fragen treiben nicht nur die Angehörigen um.
Tobias R. hat sich in Hanau seine Opfer gezielt ausgesucht. So berichtet ein Zeuge im eindrucksvollen Spotify-Podcast „190220“, wie der Täter ihm mit auf ihn gerichteter Waffe sekundenlang intensiv in die Augen schaute. Wohl weil diese blau sind und seine Haare hell, blieb Mustafa trotz seines Migrationshintergrundes verschont. „Er hat mich angesprochen, aber ich habe nichts gesagt. Er wollte wohl hören, ob ich Deutscher bin“, berichtet der Zeuge, der noch spürbar unter dem Geschehenen leidet.
Hanau: Ein Jahr nach dem Anschlag - Angehörige der Opfer berichten über Tat in Podcast
So wie die engsten Angehörigen der Opfer, die in besagtem Podcast über einen Vertrauensverlust in die Behörden berichten. Dafür gibt es mehrere nachvollziehbare Anlässe. Vili-Viorel Păun wagte es vergeblich, dem Täter am Tatort in der Innenstadt in Hanau den Weg zu versperren, als dieser zurück in den Stadtteil Kesselstadt fahren wollte. Păun verfolgte den Täter bis dorthin, versuchte immer wieder, die Polizei anzurufen – doch der Notruf war besetzt.
Inzwischen räumte Innenminister Peter Beuth (CDU) ein, dass es einen Engpass gegeben habe. Vili-Viorel Păun bezahlte diesen Engpass mit seinem Leben, denn am zweiten Tatort erschoss ihn Tobias R. in Păuns Auto, ehe er weitere Menschen in Hanau tötete. Und der Vater von Mercedes Kierpacz, der seit dem Tod seiner Tochter nie mehr seine Wohnung nahe des Tatortes betreten habe, fragt: „Die Polizeistelle ist 300 Meter vom Tatort entfernt. Wie kann es sein, dass die so lange brauchen?“
Die Eltern von Hamza Kurtović berichten, wie sie die ganze Nacht im Ungewissen gelassen wurden, ob ihr Sohn noch am Leben ist. Am Tatort wartend seien sie zwischenzeitlich sogar von Polizisten mit der Waffe bedroht worden. Erst am Morgen nach der Tat in Hanau herrschte Gewissheit, dass es ihr Sohn nicht geschafft hat. Wie sie später erfahren hätten, wurde die bosnische Botschaft darüber bereits Stunden zuvor informiert. Tagelang wussten die Kurtovićs nicht, wo die Leiche aufbewahrt wird – als sie den Verstorbenen nach all der langen Zeit endlich sehen durften, war sein Körper für die Obduktion in Gänze aufgeschnitten.
In den Akten sei vermerkt, dass den Behörden niemand bekannt gewesen sei, der der Obduktion hätte widersprechen können. Zudem zitieren Kurtovićs aus dem Polizeibericht eine völlig falsche Personenbeschreibung ihres Sohnes inklusive rassistisch anklingender Plattitüden. „Das ist gedankenlos und ohne jede Rücksicht auf die Angehörigen“, kritisiert die Anwältin der Familie im Podcast „190220“ dieses Vorgehen scharf. Dass in einer Ausnahmesituation menschliche Fehler unterlaufen, sei normal. Allerdings müsse schonungslos diskutiert und überprüft werden, was dabei auf strukturelle Probleme hindeutet.
Viele Fragen sind auch ein Jahr nach dem Anschlag in Hanau offen - Suche nach Antworten
Und dann ist da noch der Vater des Täters, der nach wie vor in Hanau lebt und dessen Rolle weiterhin unklar ist. Weshalb hat sein Sohn ihn in der Tatnacht verschont, nicht aber die Mutter? Hat er die Taten seines Sohnes durch sein eigenes Gedankengut erst angefeuert? Weshalb forderte er die Herausgabe der Tatwaffen seines Sohnes? Und was treibt ihn an, im Internet haltlose Verschwörungstheorien über die Tatnacht zu verbreiten, wie der Hanauer Anzeiger berichtete? Demnach habe er kundgetan, dass der Geheimdienst seinen Sohn auf dem Gewissen habe und die Morde durch einen als sein Sohn verkleideten Agenten begangen worden seien. (Lesen Sie hier: Rund 3000 Menschen erinnern in Frankfurt an die Opfer von Hanau*)
Vieles bleibt nebulös. Fakt ist jedoch, dass die Angehörigen der Opfer sich nicht wohl bei dem Gedanken fühlen, dass diesen Fragestellungen seitens der Behörden nicht intensiv genug nachgegangen werden könnte. Als vor wenigen Wochen Angehörige in der Nähe des Wohnhauses des Vaters demonstrierten, habe dieser laut „Bild“-Zeitung verlauten lassen, dass diese „wilden Fremden“ das „Maul halten und sich dem Deutschen Volk und dem Grundgesetz vom 23. Mai 1949 unterordnen“ sollen. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft Hanau gegen den 73-Jährigen Anklage wegen Beleidigung erhoben. (Lesen Sie hier: Anschlag in Hanau: Angehörige der Opfer stellen Strafanzeige* gegen Vater des Täters)
Podcast
In einem mehrteiligen Podcast mit dem Titel „190220“ berichten zwei Journalistinnen eindrucksvoll von ihren Begegnungen mit den Angehörigen der Opfer.
Manche Gräben in den Köpfen sind durch die Tat in Hanau tiefer geworden, das gegenseitige Misstrauen und das in die Behörden ist bei einigen gewachsen. All die große Solidarität mit den Angehörigen der Opfer reicht nicht aus, wenn elementare Fragen offen bleiben. Es dürfte noch ein langer Weg der Auf- und Verarbeitung sein. *fnp.de und fr.de sind Teil des Ippen-Digital-Netzwerks.
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