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„Bittersüßes Geburtserlebnis“: 29-Jährige floh hochschwanger aus Charkiw nach Schlüchtern

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Von: Marah Naumann

Ukrainerin mit Baby in Herolz
Daria fühlt sich nach ihrer Flucht aus der Ukraine mit ihrer kleinen Tochter in Herolz sicher. Ihr Mann konnte sein Baby noch immer nicht im Arm halten. © Marah Naumann

Wenn ein Kind zur Welt kommt, ist das immer ein Grund zur Freude. Doch für Daria hatte die Geburt ihrer Tochter am 11. Mai in Gelnhausen einen bitteren Beigeschmack: Die 29-Jährige war im März aus der Ukraine geflohen.

Schlüchtern - Daria sitzt mit ihrer fünf Wochen alten Tochter Anna auf dem Balkon des ehemaligen Gasthauses „Nau“ in Herolz (Main-Kinzig-Kreis). Die Sonne scheint, es ist warm und ruhig, im Hof spielen ein paar Kinder. Im Hotelzimmer nebenan übt Darias ältere Tochter Anastasia gerade Englisch. Nichts deutet darauf hin, was sie durchmachen mussten.

Die 29-jährige Mutter stammt aus der ostukrainischen Großstadt Charkiw. Dort ist sie in einer Abteilung der Universität tätig. Ihr Ehemann ist Pilot bei der Armee. „Als der Krieg am 24. Februar begann, packte er eine kleine Tasche mit Kleidung und verabschiedete sich“, erinnert sich Daria, während sie ihre Tochter stillt, mit der sie damals noch schwanger ist.

Main-Kinzig-Kreis: 29-jährige Ukrainerin flieht hochschwanger nach Schlüchtern

An jenem Tag beginnt die Flucht der kleinen Familie – ohne Vater und Ehemann. Denn der kämpft beim ukrainischen Militär gegen russische Truppen. Wo er sich derzeit aufhält, darf Daria nicht verraten. „Wir waren erst noch zwei Wochen in Charkiw und haben uns im Untergrund versteckt“, erinnert sie sich. Schließlich nimmt die hochschwangere Mutter mit Tochter Anastasia einen Evakuierungszug Richtung Westukraine, wo sie in einem Dorf Zuflucht finden. „Dort war aber die ärztliche Versorgung nicht so gut, ich hatte Angst um mein Baby“, erzählt Daria. Also geht die Flucht weiter – und endet schließlich in Herolz, wo sie am 26. März ankommen.

Im „Nau“ bezieht Daria mit ihrer siebenjährigen Tochter ein kleines Zimmer. Auch eine Freundin der 29-Jährigen ist in Herolz untergekommen. „Es ist hart ohne Familie“, sagt Daria, die nicht nur ihren Ehemann vermisst, sondern auch ihre Eltern, die im Norden der Ukraine leben. „Ich wollte erst dorthin fliehen, aber die Straßen waren vermint.“ Wie Daria geht es auch den anderen Frauen, die, teilweise mit Kindern, im „Nau“ wohnen. Und nun ist es ein Kind mehr. (Lesen Sie hier: Frauchen und Herrchen wollen wieder reisen: Großer Andrang beim Hundehotel in Schlüchtern)

Eigentlich sollte Anna erst Ende Mai das Licht der Welt erblicken. Aber sie hatte es eilig. Am 11. Mai, ein Mittwoch, beginnen um 7 Uhr bei Daria die Wehen. Doch sie ist vorbereitet, hat hier zuvor schon mehrere Kontrolltermine wahrgenommen und sich auf der Geburtsstation der Main-Kinzig-Kliniken in Gelnhausen angemeldet.

Weil sie die deutsche Sprache noch nicht beherrscht, begleitet sie eine ukrainische Hebamme, die zufälligerweise ebenfalls im „Nau“ Zuflucht gefunden hat. „Irina half mir bei der Geburt und bei der Verständigung mit den Ärzten. Alles lief gut“, freut sich Daria, die schließlich um 20 Uhr ihre Tochter zur Welt bringt. Es gibt lediglich ein paar bürokratische Probleme. So wartet Daria derzeit noch immer auf Annas Geburtsurkunde.

Seit der Flucht telefoniert sie jeden Tag mit ihrem Mann. Am 11. Mai ruft sie ihn aber erst an, als Anna da ist. „Ich habe gesagt: ‚Ich habe Neuigkeiten für dich.‘ Da meinte er: ‚Ich habe keine Zeit, ich rufe dich zurück.‘“, erinnert sich Daria. „Er hat nicht damit gerechnet, weil der Termin ja erst später sein sollte. Deshalb habe ich gesagt: ‚Nein, es sind wichtige Nachrichten‘ und ihm berichtet, dass unsere Tochter geboren wurde. Da begann er zu weinen.“

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Bis heute hat Darias Mann seine kleine Tochter nicht im Arm halten dürfen. Weil er kämpfen muss und nicht ausreisen darf, kann er nicht einmal zu Besuch kommen. „Jedes Mal, wenn ich mit ihm telefoniere, frage ich, wann ich nach Hause kommen kann. Da sagt er jedes Mal, dass es noch zu früh ist. Oft höre ich bei den Telefonaten Explosionen im Hintergrund“, erzählt die junge Mutter. Im früheren Gasthaus „Nau“ fühlt sich Daria sicher. „Die anderen Frauen helfen mir beim Kochen oder beim Aufpassen auf das Baby“, berichtet sie vom Zusammenhalt in der Flüchtlingsunterkunft. Auch ihre große Tochter unterstützt sie mit Anna.

Doch der Krieg in der Heimat ist stets allgegenwärtig, wie Daria verdeutlicht: „Gestern flog ein lautes Flugzeug über das Haus. Wir wurden alle wach und hatten große Angst, weil es uns an die Situation in der Ukraine erinnerte. Auch unsere Kinder hatten große Angst und haben gefragt ‚Ist jetzt hier Krieg?‘“

Auch wenn sie sich nicht allein fühlt – ihre Familie vermisst Daria sehr. „Wenn nächste Woche der Krieg zu Ende wäre, würden wir sofort zurück. Wir haben dort unser Zuhause, unsere Arbeit, unser Leben.“ Daria hofft, den ersten Geburtstag ihrer kleinen Tochter Anna in der Heimat feiern zu können, „mit unserer ganzen Familie“. Doch auf die Frage, ob sie weiß, wann sie ihren Mann und ihre Eltern wieder sieht, wird ihr Gesicht ausdruckslos. „Nein, ich weiß es nicht.“

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