1. Fuldaer Zeitung
  2. Kinzigtal

Erst beleidigt, dann mit Stock verletzt - Wohl rassistisch motivierte Attacke auf Familie in Schlüchtern

Erstellt:

Von: Tim Bachmann

Ein offenbar rassistisch motivierter Vorfall im Main-Kinzig-Kreis beschäftigt die Polizei und den Staatsschutz.
Ein offenbar rassistisch motivierter Vorfall im Main-Kinzig-Kreis beschäftigt die Polizei und den Staatsschutz. © Andreas Arnold/dpa

Im Main-Kinzig-Kreis hat sich Anfang September ein Vorfall ereignet, der die Polizei und den Staatsschutz beschäftigt: Eine 2016 aus dem Irak geflohene Familie ist wohl Opfer einer rassistisch motivierten Attacke geworden.

Schlüchtern - Tatort Innenstadt Schlüchtern. Es ist der 2. September. Mittagszeit. Ein warmer Tag. Kein Regen. Eine Familie geht die Straße entlang. Die Mutter, eine Freundin, drei Kinder - 14, 10 und 5 Jahre alt. Überraschend wird die Familie von einem großen Hund angebellt. Erschrocken springen die beiden kleineren Kinder auf die Straße - zum Glück fährt gerade kein Auto vorbei.

Main-Kinzig-Kreis: Familie wohl rassistisch attackiert - Staatsschutz ermittelt

Die Mutter sagt zu den Kindern, das sei „ein schlimmer Hund“. Plötzlich eskaliert die Sache: Der Hundehalter, der im Garten beim Obstpflücken ist, ruft: „Der Hund bellt, weil er euch Ausländer am Geruch, den Klamotten und dem Aussehen erkennt!“ So schildert es die Mutter aus ihrer Erinnerung. Diese fragt zurück: „Was hat das damit zu tun?“ Der Mann solle sich bitte respektvoll verhalten und den Hund zurücknehmen. Doch der Mann erwidert: „Wenn du eine Frau bist, komm rein! Dann f**** ich dich in den A****!“

Auch die älteste Tochter fordert jetzt respektvolles Verhalten. Der Mann beginnt im Gegenzug, mit Früchten nach ihr zu werfen - und trifft; davon zeugt noch heute ein pflaumengroßer Bluterguss am Oberarm. Die Mutter ruft die Polizei. Doch die Beamten, so berichtet die Frau, erklären ihr, nicht helfen zu können. Sie verweisen jedoch auf die Möglichkeit einer Online-Anzeige.

Als der telefonisch herbeigerufene Familienvater zu Hilfe eilt, eskaliert die Situation weiter. Der Angreifer packt sich einen Schaufelstiel, drischt dem Vater auf den linken Unterarm. Dieser entwendet ihm den Knüppel, wirft ihn in den Garten. Der Angreifer holt sich einen weiteren Stock und will jetzt auf die Mutter losgehen. Die Frau, die wohl schon seit längerer Zeit unter gesundheitlichen Problemen leidet, wird ohnmächtig. Sie liegt auf der Straße. Schnell kommt - von der Freundin verständigt - der Rettungsdienst.

Online-Anzeige

Die Polizisten haben der betroffenen Familie aus dem Irak empfohlen, die Möglichkeit der Online-Anzeige zu nutzen. Auf der entsprechenden Internetseite (verband-brg.de) findet sich auch der Leitfaden des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG), der nicht nur Infos dazu gibt, wie eine Anzeige zu stellen ist, sondern auch, wie es danach weitergeht.

So werden Handlungsmöglichkeiten für Betroffene, Angehörige und auch Zeugen aufgezeigt - von der Frage „Was können die Opferberatungsstellen für Betroffene tun?“, über Hinweise, worauf nach einem Angriff zu achten ist und mögliche Folgen eines Angriffs, dem Umgang mit der Polizei im Allgemeinen, der Rolle von Polizei und Staatsanwaltschaft während eines Ermittlungsverfahrens im Speziellen bis hin zur Frage, was zu tun ist, sollten die Täter oder Täterinnen selbst Anzeige stellen? Anschaulich erklärt wird alles rund um ein Gerichtsverfahren, von der Nebenklage bis hin zum Opferentschädigungsgesetz. Weiter sind dem Leitfaden des VBRG Mustervorlagen und Kontaktadressen angehängt.

Im Fahrzeug liegend, kommt die Mutter wieder zu Bewusstsein. Die Besatzung will sie ins Krankenhaus bringen. Doch die Frau lehnt ab. Sie hat Angst um ihre Kinder. Schließlich trifft auch die Polizei ein. Deren abschließender Rat klingt zynisch: Die Familie solle sich in Zukunft einen anderen Weg nach Hause suchen... So die Schilderung der Familie.

Nachfrage beim Polizeipräsidium Südosthessen: Die Ermittlungen zum Vorfall im Main-Kinzig-Kreis laufen, bestätigt der Sprecher. Eingegangen sind mehrere Anzeigen. Und eingeschaltet ist auch der Staatsschutz. Zeugen des Vorfalls mögen sich bitte unter Telefon (069) 80981234 melden. (Lesen Sie auch: Vater und Sohn nach Tat schuldig gesprochen - „Tat nicht rassistisch motiviert“)

Ortswechsel. Ein paar Tage später. Ein Mehrfamilienhaus in einer ruhigen Schlüchterner Wohngegend. Gepflegte Atmosphäre, gediegene Ausstattung: Die Familie, 2016 aus dem Irak nach Deutschland gekommen, hat es ganz augenscheinlich geschafft, in der Mitte der Gesellschaft anzukommen.

Entsetzen in Schlüchtern nach Rassimus-Vorfall

Auf dem Tisch: Kaffeetassen, Arztberichte, Gedächtnisprotokolle, Dokumente. Die 14-jährige Tochter kennt sich zwar nicht gut mit Hunden aus, aber die Größe eines Labradors habe das Tier schon gehabt, erinnert sie sich an die bedrohliche Situation. Sie zeigt auf das Hämatom am Oberarm; der linke Unterarm des Vaters, immer noch bandagiert, liegt auf dem Tisch. Er ist nach wie vor krankgeschrieben, denn: „Auf der Arbeit mache ich das meiste mit der linken Hand“, sagt der Linkshänder. Das Trauma wirkt nach, besonders bei den Kindern: Der Fünfjährige versteckt sich hinter den Beinen der Eltern, wenn er fremde Männer sieht.

Er habe aus beruflichen Gründen schon häufiger mit dem Gedanken gespielt, fortzuziehen, erklärt der Vater. Aber seine Kinder wollten bleiben. Wenn die Familie gelegentlich in Großstädten zu Besuch sei, fühlten sie sich unwohl und verloren. „Da gibt’s zu viele Menschen.“ In Schlüchtern hätten die Kinder ein Zuhause gefunden, hier gehen sie zur Schule und zum Kindergarten. Hier sind sie fest integriert. Aber nach dem 2. September sagen sie zum Vater: „Wenn Du willst, können wir jetzt umziehen.“

Entsetzt über den Vorfall zeigt sich Clas Röhl. Er ist in Schlüchtern seit Jahren integrativ tätig. Die Familie wohnt in seiner Nachbarschaft: „Das sind herzensgute Menschen. Ich habe mit ihnen in der Vergangenheit zahlreiche Anträge ausgefüllt.“

Das, was passiert ist, darf nicht einfach so untergehen

Clas Röhl, engagiert sich für Integration

Röhl spricht von einer Welle der Solidarität, die derzeit durch Schlüchtern gehe. Besonders wichtig sei, dass es einen Kreis an Ehrenamtlichen gebe, der sich nun um die Familie kümmere. Denn in Schlüchtern sei zwar am Wochenende ein wunderschönes „Nationen-Fest“ mit vielen Besuchern gefeiert worden, aber „jetzt sehen wir leider auch wieder die ‚dunkle Seite‘ der Integration, die man nicht verkennen darf“.

Röhl berichtet, dass das Thema Rassismus und rechte Gewalt von staatlicher Seite aus ernst genommen werde. „Das kann man gar nicht anders sagen.“ Er erklärt weiter, die Polizisten hätten „eine Sache sehr gut gemacht“: Sie haben der Familie die Möglichkeit der Online-Anzeige aufgezeigt. Dort finde sich der Leitfaden des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG). „Das, was passiert ist, darf nicht einfach so untergehen“, hebt Röhl hervor. (Von Stephan Siemon und Tim Bachmann)

Auch interessant