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Junge in Sack erstickt - Mutter: „Was mir vorgeworfen wird, ist grauenvoll“ 

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Prozess gegen 60-jährige Frau in Hanau: Vor dem Landgericht schildert die Angeklagte, wie sie die Geschehnisse erlebt hat, weist aber jede Schuld am Tod ihres Sohnes von sich.
Vor dem Landgericht Hanau schildert die 60-jährige Angeklagte, wie sie die Geschehnisse erlebt hat, weist aber jede Schuld am Tod ihres Sohnes von sich. © Arne Dedert/dpa

Ein Junge erstickt qualvoll, eingeschnürt in einen Sack. Mehr als drei Jahrzehnte später schildert seine Mutter als Angeklagte vor Gericht, wie sie die Geschehnisse erlebt hat. Eine Beteiligung am Tod des Jungen weist sie von sich.

Hanau - Sie sah ihren vierjährigen Sohn in einer „schwierigen Phase“: Über Stunden schildert eine wegen Mordes angeklagte Mutter am Montag vor dem Landgericht Hanau (Main-Kinzig-Kreis), wie es zu der Verbindung mit einer mutmaßlichen Sekten-Führerin kam, in deren Haus das Kind vor mehr als drei Jahrzehnten qualvoll zu Tode kam.

Laut Anklage soll die Mutter ihren Sohn in die Obhut der Frau gegeben haben - eingeschnürt in einen Sack, in dem der Junge später ohnmächtig geworden und an seinem Erbrochenen erstickt sein soll. „Was mir vorgeworfen wird, ist grauenvoll“, erklärt die Frau in einem vorbereiteten Manuskript, das sie selbst vor Gericht vorliest. Gelegentlich stockt sie, schluchzt kurz. Die Vorwürfe weist die schmale Frau mit Kurzhaarfrisur und Brille in ihrer Aussage von sich.

Die Staatsanwaltschaft wirft der promovierten Biologin vor, ihren Sohn am 17. August 1988 aus niedrigen Beweggründen ermordet zu haben. Zum Prozessbeginn waren die Verteidiger der Mutter in die Offensive gegangen.

Main-Kinzig-Kreis: Junge in Sack erstickt - Mutter weist Schuld von sich

Die mittlerweile 74 Jahre alte mutmaßliche Sekten-Anführerin soll der Mutter eingeredet haben, dass ihr Sohn die „Reinkarnation Hitlers, ein Machtsadist und von den Dunklen besessen“ sei, und zudem prophezeit haben, dass der Junge bald „vom Alten“ geholt werde - eine Bezeichnung für Gott in der Gemeinschaft.

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft soll die Mutter gewusst haben, dass die mutmaßliche Sekten-Chefin ihrem Kind nach dem Leben getrachtet habe. Auch sei der Angeklagten bewusst gewesen, dass die heute 74-Jährige den Jungen sterben lassen würde, um ihre Voraussage zu bestätigen und so ihre Machtposition zu stärken. Damit habe die Mutter den Tod des kleinen Jungen billigend in Kauf genommen.

Junge in Sack erstickt - Mutter schildert Geschehnisse

In ihrer Erklärung schildert die Mutter, wie sehr ihr die Vorwürfe zusetzen. Man habe sie als „eiskalt“ beschrieben, als Frau, die eine Mörderin decke, sagt die Angeklagte. „All meine Selbstzweifel werden mir so ausgelegt, als hätte ich mein Kind nicht geliebt.“ Sie schließe völlig aus, dass sie ihren Sohn mit Gewalt in einen Sack gesteckt und diesen verschnürt habe. Sie sei sich auch immer sicher gewesen, dass die mutmaßliche Sekten-Anführerin die besten Absichten gehabt habe. Es sei ihr nie in den Sinn gekommen, dass diese ihrem Sohn Böses gewollt, schon gar nicht, dass sie ihm nach dem Leben getrachtet hätte.

Im Haus der heute 74-Jährigen, die neben zwei leiblichen auch mehrere Pflege- und Adoptivkinder hatte, seien die Kinder nach Streitigkeiten zwar gelegentlich eingeschlossen worden. Auch Ohrfeigen oder mal einen „Klaps auf den Po“ habe sie mitbekommen, sagte die Angeklagte, betont aber: „Brutalität habe ich nicht erlebt.“

Als Mutter „manchmal verzweifelt und überfordert“ gewesen

Als Mutter sei sie „manchmal verzweifelt und überfordert“ gewesen, räumt die 60-Jährige ein - auch wenn ihr Sohn ein Wunschkind gewesen sei, das sie geliebt habe. Der Junge habe häufig „Wutanfälle“ gehabt, sei unruhig und fordernd gewesen, „aus heutiger Sicht würde man vielleicht sagen, er hatte frühkindliche autistische Züge“. Wenn man ihm zwei Autos gegeben habe, „wollte er drei“. Vielleicht sei er auch unglücklich gewesen. Heute würde sie sich wohl kinderpsychologischen Rat holen, so die Angeklagte.

Prozess gegen 60-jährige Frau in Hanau
In Hanau hat der Prozess gegen die 60-Jährige begonnen. © Arne Dedert/dpa

Auch weil sie mit der Betreuung des Jungen bei zwei Tanten, die den Jungen sehr verwöhnt hätten, nicht zufrieden gewesen sei, sei ihr Sohn seit ihrer Promotion und später auch als sie arbeiten ging, immer wieder von der mutmaßlichen Sekten-Chefin betreut worden. Die Verwandten hätten den Jungen inkonsequent behandelt und „ständig hochgenommen“, sagte die Angeklagte.

Sie selbst sei damals davon überzeugt gewesen: „Ein kleines Kind braucht auch mal seine Ruhe“ und müsse auch mal für sich sein. „Ich wollte gewisse Regeln bei meinem Sohn eingehalten haben.“ Sie und ihr Mann hätten ein gutes Gefühl gehabt, den Jungen zu der mutmaßlichen Sekten-Chefin zu geben.

Mutter hatte gutes Gefühl, Sohn zur mutmaßlichen Sekten-Chefin zu geben

Die 74-jährige mutmaßliche Sekten-Chefin war vor rund einem Jahr wegen Mordes an dem Kind vom Landgericht Hanau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Da sie gegen das Urteil in Revision gegangen ist, über die noch nicht entschieden wurde, ist es nicht rechtskräftig. Die Mutter war einen Tag nach dem Urteil in Leipzig festgenommen, seither sitzt sie in Untersuchungshaft.

Ermittler hatten den Tod des Jungen viele Jahre für einen Unfall gehalten, erst 2015 war der Fall nach Hinweisen von Sekten-Aussteigern wieder aufgerollt worden. (dpa)

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