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„Ich habe wirklich einen Vater!“ US-Amerikanerin sucht im Main-Kinzig-Kreis nach ihren Wurzeln

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Von: Marah Naumann

Tracy Whipple im Gespräch mit Ortsvorsteher Willi Merx vor laufender Kamera an der Stelle in der Sterbfritzer Ortsmitte, wo einst das Haus ihrer Vorfahren stand.
Tracy Whipple im Gespräch mit Ortsvorsteher Willi Merx vor laufender Kamera an der Stelle in der Sterbfritzer Ortsmitte, wo einst das Haus ihrer Vorfahren stand. © Jochen Melk

Auf der Suche nach ihren Wurzeln hat die US-Amerikanerin Tracy Whipple mit ihrem Lebensgefährten, dem französischen Regisseur und Autor Gilles Bovon, Sterbfritz (Main-Kinzig-Kreis) besucht. Hier wurde ihr Großvater geboren. Das in Paris lebende Paar hält die spannende Spurensuche mit der Kamera fest.

Sterbfritz - Tracys Mutter, die 1932 geborene US-Amerikanerin Rita Whipple, hieß nach ihrer Geburt im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt Renate Tannenbaum. Sie lebte von 1935 bis 1937 in Neu-Isenburg im Heim des Jüdischen Frauenbundes, bevor sie 1939, kurz nach der Reichskristallnacht, mit ihrer Mutter Klara und ihrem Bruder Egon Nazi-Deutschland verließ.

Sie war eine von etwa 20.000 Jüdinnen und Juden, denen bis 1941, vor Schließung der Flüchtlingsrouten durch den Kriegseintritt Japans, die Flucht nach Shanghai gelang. Mit Unterstützung der in den USA lebenden Familie reisten die Tannenbaums schließlich 1949 nach New York – und Renate wurde in Rita umbenannt. (Lesen Sie hier: Stehling-Brüder aus Wallings wanderten 1845 nach Texas aus - Ludwig Schuhmann folgt den Spuren der Vorfahren)

Main-Kinzig-Kreis: US-Amerikanerin sucht nach ihren Wurzeln

Tochter Tracy Whipple erzählt, dass sie von der Biografie ihrer Mutter nichts wusste. Erst vor Kurzem sei die eigene Herkunft Thema gewesen, „erst als Erwachsene erfuhr ich von meiner jüdischen Herkunft“. Den Filmemacher Gilles Bovon interessierte die Geschichte.

Im Online-Gedenkbuch für das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg fand er den Namen seiner Schwiegermutter. Er kontaktierte die Kunsthistorikerin Esther Erfert-Piel, die das Gedenkbuch im Netz betreut, und bat sie um Hilfe bei den Nachforschungen.

Auf der Klingenmühle verbrachte Rita Whipples Vater seine Kindheit.
Auf der Klingenmühle verbrachte Rita Whipples Vater seine Kindheit. © Jochen Melk

Besonders die Recherchen zu Renates Vater, der für sie nur ein Name auf ihrer Geburtsurkunde war, weitete sich bald auf viele Institutionen in Deutschland aus. Von einer Adresse in Frankfurt nahm die Suche ihren Lauf.

Über die Sterbfritzer Internetchronik fand sich ein Kontakt zum Dorfverein „Starwetz lebt!“, dessen Mitglieder weitere Informationen beitragen konnten. Jochen Melk vom Chronik-Team des Vereins erstellte aus bereits digitalisierten Standesamtsdaten einen kleinen Stammbaum, der bis zu den Großeltern von Tracy Whipples Großvater Wilhelm Eckhardt zurückreicht. Auch einige Wohnorte der Familie konnten ermittelt werden.

Die zusammengetragenen Informationen zur Lebensgeschichte ihres Vaters wurden schließlich der noch immer in den USA lebenden Rita Whipple zu ihrem 89. Geburtstag per Videoanruf präsentiert. Es war ein Geschenk der ganz besonderen Art und sie kommentierte es auf Deutsch mit den Worten: „Ich habe wirklich einen Vater!“

Dieser Vater, Wilhelm Eckhardt, wurde 1902 in Sterbfritz (Main-Kinzig-Kreis) geboren. In den frühen 1930er Jahren zog es ihn, wie viele andere, nach Frankfurt. Dort fand er eine Stelle als Hotelangestellter und lernte die Jüdin Klara Tannenbaum kennen. Acht Monate nach der Geburt von Tochter Renate erkannte er auf einem Standesamt in Frankfurt die Vaterschaft an.

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Die Recherchen, die Tracy Whipple nun zu ihrem ersten Aufenthalt in Deutschland geführt haben, werden von Gilles Bovon und einem französischen Kameramann in einem Dokumentarfilm festgehalten. Ortsvorsteher und Dorfverein-Vorsitzender Willi Merx (BWG) erläuterte ihr vor Ort in Sterbfritz detailliert die recherchierten Familienverhältnisse.

Sichtlich bewegt erkundigte sich Tracy Whipple nach den näheren Lebensumständen ihrer Vorfahren und der Menschen im Ort. Veranschaulicht wurde ihr die Geschichte auch durch historische Fotos – unter anderem von dem Geburtshaus ihres Großvaters.

Das Geburtshaus von Wilhelm Eckhardt in der Schlüchterner Straße (mit Pfeil markiert) wurde Ende der 1930er Jahre wegen des Straßenneubaus abgerissen.
Das Geburtshaus von Wilhelm Eckhardt in der Schlüchterner Straße (mit Pfeil markiert) wurde Ende der 1930er Jahre wegen des Straßenneubaus abgerissen. © Jochen Melk

Dieses stand an der heutigen Ecke Schlüchterner Straße/Alte Schlüchterner Straße und wurde beim Straßenneubau Ende der 1930er Jahre abgerissen. An diesem Standort thematisierten die Teilnehmenden des Rundgangs das Schicksal der einst großen jüdischen Gemeinde in Sterbfritz.

Als Geschenk für Rita Whipple überreichte der Dorfverein ihrer Tochter Tracy ein Exemplar des Buches „Aus unbeschwerter Zeit“ von Max Dessauer, in dem der Autor von seiner Kindheit berichtet, als in Sterbfritz Juden und Christen noch einträchtig beieinander wohnten.

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Zu einer besonders berührenden Begegnung kam es abschließend an der Klingenmühle. Wilhelm Eckhardts Vater starb, als der Junge sieben Jahre alt war. Seine Mutter, eine geborene Gunkel, heiratete daraufhin den Müller Johannes Strott, sodass Wilhelm mit seinen Geschwistern dort seine weitere Kindheit verbringen konnte.

Der als kurzer Halt geplante Besuch der Klingenmühle wurde zum bewegenden Moment, als Tracy Whipple klar wurde, dass der jetzige Besitzer Jean Strott, den sie nun kennenlernen durfte, der Sohn des Stiefbruders ihres Großvaters war.

Ob das Filmprojekt ihres Lebensgefährten ein reines Privatprodukt bleibt oder ob es zu einer Veröffentlichung – vielleicht auch in Deutschland – kommt, ist derzeit noch unklar. Dem Dorfverein wurde jedenfalls ein fertiges Exemplar versprochen.

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