„Der Leuchtturm“ im Kino: Auch Folklore taugt zum Horror

Robert Eggers’ Horrorfilm „Der Leuchtturm“ bringt zwei Männer zusammen - verstrickt in Seemannsgarn, umgeben vom Unheimlichen. Und dann zieht auch noch ein Sturm auf.
Von den Hunderttausenden, die gerade den „Joker“ zu einem Milliardenerfolg gemacht haben, kennt wohl nur eine Minderheit die beiden Filme von Martin Scorsese, die ihm besonders als Vorbilder dienten, „Taxi Driver“ und „King of Comedy“. Natürlich kann man den tragischen Clown verstehen, auch ohne Robert De Niros frühere Charaktere und ihre narzisstisch motivierten Missetaten zu kennen. Aber es ist doch ein interessantes Phänomen: So unsichtbar das klassische Kino im Fernsehen und selbst bei Netflix geworden ist, inspiriert es derzeit eine Retro-Welle – vielleicht gerade weil es zum Geheimtipp geworden ist.
Robert Eggers’ Horror-Kammerspiel „Der Leuchtturm“ hat es dabei besonders leicht, sich nicht in die Karten gucken zu lassen. Sein filmisches Vorbild, Jean Grémillons Klassiker „Die Leuchtturmwärter“ von 1929, ist nur noch Liebhabern von Stummfilmfestivals bekannt. Die einzige Filmkopie überlebte in Japan, einem Land, wo es besonders viele Leuchttürme gibt. Kein Wunder, dass man dort das schwelgerische Ambiente besonders zu schätzen wusste: Ein Zwei-Personen-Drama auf engstem Raum – und doch mit Meerblick.
Robert Eggers muss nicht einmal im Vorspann einen Hinweis auf den Klassiker geben, dem er sogar filmtechnisch nachspürt. Schon die Bilder sehen aus wie von 1929: Aufgenommen nicht nur in Schwarzweiß, sondern auf sogenanntem orthochromatischem Zelluloidfilm, lassen sie die raue Landschaft Neuenglands noch unwirklicher erscheinen. Da das frühe Filmmaterial noch nicht das ganze Farbspektrum in Grauwerte übersetzen konnte, wirkt es besonders expressiv – die Himmel schwerer und das Blut tiefschwarz.
„Der Leuchtturm“: William Dafoe - ein Pirat von einem Leuchtturmwärter
Willem Dafoe spielt den Leuchtturmwärter Thomas Wake, Robert Pattinson ist Ephraim Winslow, sein Gehilfe; die größten Lichter sind sie beide freilich selber nicht.
Aber Wake markiert zumindest den patenten alten Seebären und besteht auf maritimen Hierarchien: „Das Licht ist meins“, betont er die Rollenverteilung gleich zu Beginn. Soll heißen: Winslow habe gefälligst das Deck zu schrubben oder, da man nun einmal an Land ist, die Wendeltreppe – und die Nachttöpfe auszuleeren. Entgegen der Dienstverordnung, die abwechselnde Schichten an der Lampe vorschreibt, bleibt er vom Allerheiligsten ausgesperrt.
Vier Wochen sollen die beiden als einzige Bewohner auf der Leuchtturminsel ausharren, doch daraus wird nichts; ein Sturm zieht auf und macht ein Fortkommen unmöglich. Beste Voraussetzungen, verrückt zu werden.
Willem Dafoe, der zuletzt einen überraschend sanften Vincent van Gogh verkörperte*, grummelt als Wake meist bedrohlich in Rauschebart und Pfeife – ein Pirat von einem Leuchtturmwärter.
„Der Leuchtturm“: Eine geschnitzte Meerjungfrau dient als Masturbationsvorlage
Während seine Filmfigur das blinkende Auge hinter dem rotierenden Prisma beschützt, als wäre es sein eigenes, findet der ängstliche Winslow woanders seinen eigenen Fetisch. Eine geschnitzte Meerjungfrau dient ihm als Masturbationsvorlage, und wie es scheint, lassen sich auch die Fabelwesen selbst auf diese Weise anlocken. Er ist überzeugt, dass Meerjungfrauen an der Küste baden, und die malerische Kamera von Jarin Blaschke gibt seinen Visionen nur zu gerne recht.
Blaschke war schon für die blass-dunklen Bilder von Eggers’ Horrorfilm „The Witch“ verantwortlich, ein tiefschwarzes Märchen aus dem 17. Jahrhundert, das 2015 zu einem Überraschungserfolg wurde. Nun ist es eher das stumpfe Silber alter Fotografien, das seine Bilder inspiriert. Auch ohne den langsam fortschreitenden Wahnsinn in der Geschichte könnte man sich kaum von ihnen abwenden.
„Der Leuchtturm“: Etliche Phrasen scheinen direkt bei Herman Melville abgeschrieben
Eggers betrachtet die maritime Folklore als Steinbruch für den latenten Grusel muffiger Konventionen. Dazu gehört auch die Unbeholfenheit dieser beiden Männer, ihre Sexualität zu artikulieren, auch wenn ihre Sprache wahrlich derb genug dafür ist. Wenn man jemandem zutrauen könnte, endlich einmal „Moby Dick“ angemessen zu verfilmen, vielleicht Eggers: Etliche Phrasen scheinen direkt bei Herman Melville abgeschrieben.
The Lighthouse. USA/CN 2019. Regie: Robert Eggers. 100 Min
Es liegt etwas Verschmitzt-Komisches in der kruden Sprache voller maritimer Codes, die doch von Landratten in einem Leuchtturm benutzt wird. Man kann lange darüber rätseln, ob es sich bei den übernatürlichen Hausgenossen im Leuchtturm nur um das lebendig gewordene Seemannsgarn entfesselter Trunkenbolde handelt. Anderseits: Solange auch eine Riesenkrake nur unheimlich genug inszeniert ist, soll das niemandes Sorge sein. Auch Folklore taugt zum Horror.
Eine der größten Stärken des Films ist Mark Korvens fast atonale Filmmusik, die auf einen weiteren Leuchtturm-Klassiker verweist – Peter Maxwell Davies’ Kammeroper „The Lighthouse“. Stille herrscht nie in diesem Alptraum, der sich buchstäblich Windung um Windung in die Höhe schraubt.
„Der Leuchtturm“: Robert Eggers schlägt eine Brücke zurück zum surrealistischen Film der 20er
In Cannes, wo der Film in der anspruchsvollen Nebensektion der „Quinzaine“ gezeigt wurde, entwickelte sich ein Hype darum wie das sprichwörtliche Lauffeuer. Nichts liebt man dort mehr, als eine Erneuerung des Genres aus der Filmgeschichte.
Robert Eggers schlägt eine Brücke zurück zum surrealistischen Film der zwanziger Jahre, zu Jean Epstein, Luis Buñuel, Salvador Dalí oder Germaine Dulac. Es gibt eine wunderbare Horrortradition, die sich wenig um befriedigende psychologische Erklärungen sorgt und das Publikum lieber in jenes Zwischenreich entlässt, in dem das Unheimliche für sich selbst steht. Verstrickt in Seemannsgarn ist am Ende nur auf einen gesunden Aberglauben noch Verlass.
Von Daniel Kothenschulte
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