„Marriage Story“ - die zweite oscarverdächtige Netflix-Produktion

Die Netflix-Produktion „Marriage Story“ ist einer der besten Filme des Jahres.
Dass sich Geschichte wiederhole, ist in Amerika ein geflügeltes Wort. Für Hollywood mit seiner Liebe zu Remakes ist die Wiederkehr des Gleichen ein Grundpfeiler seiner Existenz. So ist auch die aktuelle Aufregung um die Konkurrenz von Netflix für viele nur ein Déjà-vu. Aber ist es das wirklich? Anfang der 50er Jahre umwarb das Fernsehen nicht nur die Haushalte, sondern auch Filmstars und Regisseure. Dennoch gelang es dem Kino über Jahrzehnte, in der Öffentlichkeit die Vorstellung eines Qualitätsvorsprungs gegenüber dem Flimmerkasten aufrechtzuerhalten. Filmkarrieren durften beim Fernsehen beginnen, wie die von Robert Redford, Steven Spielberg oder Johnny Depp, aber kaum dort enden. Erst ambitionierte Kabelsender wie HBO unterhöhlten seit den 90er Jahren diesen Glauben, etwa durch die prestigeträchtigen Festivalfilme eines Gus Van Sant.
Die Streamingdienste Netflix und Amazon kopieren das Erfolgsrezept von HBO nun in großem Stil. Obwohl ihr eigentliches Geschäftsmodell Serienformate sind, haben sie Hollywoodregisseure und einige der größten Namen des unabhängigen Films mit unwiderstehlichen Angeboten zu sich gelockt. Der Zeitpunkt konnte nicht besser gewählt sein – Hollywood hatte es anspruchsvollen Filmemachern zuletzt immer schwerer gemacht, ihre Projekte unterzubringen. Jetzt haben sie den Salat: Das Dogma vom Qualitätsvorsprung des Kinos lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.
„Marriage Story“: Regisseur Noah Baumbach übertrifft sich selbst
Da hilft es wenig, wenn Kinobesitzer die kurzen Starts, die Netflix einigen seiner Filme einräumt, boykottieren. Wer letzte Woche Martin Scorseses „The Irishman“ zeigte, hatte ein volles Haus. Wenn schon der berühmteste lebende Regisseur Amerikas zu Netflix geht, weil er sein langgehegtes Projekt bei keinem Hollywoodstudio unterbringen konnte, geht es um mehr als Marktanteile. Der Imageverlust des amerikanischen Kinos ist irreparabel.
Marriage Story.
USA 2019. Regie: Noah Baumbach. 137 Min.
Mit „Marriage Story“ kommt die zweite oscarverdächtige Netflix-Produktion in Kinos, die sich dem Boykott verweigern. Regisseur Noah Baumbach, der beste US-Komödienautor seit Woody Allen (vielleicht muss man schon sagen: nach Woody Allen), hat sich selbst übertroffen. Das zweieinhalbstündige Scheidungsdrama heißt nicht nur fast wie ein bekannter Ingmar-Bergman-Film. Es ist tatsächlich eine Art zweites „Szenen einer Ehe“, von einem zweiten Ingmar Bergman – aber einem Bergman mit ausgeprägtem Sinn für Humor. In einem Punkt wiederholt sich die Geschichte: Bergman hatte „Szenen einer Ehe“ für das Fernsehen gedreht, weil er sein Kammerspiel nur dort in epischer Länge erzählen konnte.
„Marriage Story“: Grandios inszenierter Kontrast
Kunstvoll beginnt Baumbach seinen Film als Gegenstück eines Scheidungsdramas. Ein Mann und eine Frau verlesen Listen der Dinge, die sie aneinander lieben. Es sind zärtliche, großzügige Beobachtungen. Beide sind Künstler, Charlie ein von Adam Driver gespielter New Yorker Theatermacher, Nicole, dargestellt von Scarlett Johansson, eine Schauspielerin und Star seiner Off-Broadway-Produktionen. Was könnte Menschen, die sich nicht nur innig lieben, sondern dies auch so poetisch artikulieren können, je voneinander trennen? Dennoch zieht Nicole plötzlich mit dem achtjährigen Sohn nach Los Angeles. Sie hat ein Angebot, an ihre abgebrochene Hollywoodkarriere anzuknüpfen. Je höher der Stern ihres Mannes gestiegen ist, desto kleiner hat sie sich gefühlt.
Baumbachs grandios inszenierter Kontrast macht deutlich, wie mächtig die romantischen Liebeskonzeptionen Hollywoods noch immer sind. Kann sich eine Filmkultur, die das individuelle Liebesglück so gern über alle gesellschaftlichen Widerstände siegen ließ, auch mit einem Wandel arrangieren, der mächtiger ist? Einer Gegenwart, in der die versprochene Geschlechtergerechtigkeit endlich nach Einlösung drängt?
Auch Charlie, der sich stets für einen fürsorglichen Vater gehalten hat, wird von diesem Paradigmenwechsel überholt. Er ist eine überaus sympathische Figur, das Gegenteil eines Patriarchen. Und doch scheint weibliche Selbstverwirklichung auch in der linken Kulturbourgeoisie, für die er steht, nicht den gleichen Stellenwert zu haben. „Die Idee des guten Vaters ist gerade mal dreißig Jahre alt“, belehrt Laura Dern als Nicoles Anwältin ihre Klientin.
„Marriage Story“ - auch eine Gesellschaftssatire
Baumbach wurde bekannt mit einem der geistreichsten Coming-of-Age-Filme, „Kicking and Screaming“. Doch auch seine späteren Filme über Erwachsene folgten den Reifungsprozessen: „Francis Ha“ oder „Mistress America“ machten deutlich, dass die Ungewissheit über den idealen Lebensweg sogar noch heikler wird, wenn man auf die Dreißig zusteuert. „While We’re Young“ schließlich handelte von der schmerzlichen Ernüchterung, sich in seinen Vierzigern von der Jugend zu verabschieden, ohne dafür mit den Bequemlichkeiten des Establishments belohnt zu werden. Und dieses wunderbare Ehedrama schließlich handelt vom Reifen einer Paarbeziehung und zugleich der Unausweichlichkeit ihres Scheiterns am Leben.
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Während Baumbachs dramatische Komödien von ihren pointierten Dialogen lebten, erschließt sich dieses tragikomische Drama aus den Zwischentönen. Was sich als einvernehmliche Trennung ankündigt, wird unversehens zum Ehekrieg. So plötzlich wie man einen Schalter umlegt, endet, wie es scheint, alle Vernunft. Nicht, weil jemand bösartig geworden wäre. Nur, weil plötzlich die teuersten Anwälte involviert sind. So wird auch eine Gesellschaftssatire daraus.
„Marriage Story“: Noah Baumbach zeichnet ein genaues Psychogramm
Baumbach zeichnet ein so genaues Psychogramm unausgesprochener Enttäuschungen, nicht aufgemachter Rechnungen, nie beklagter Kränkungen, dass ein völlig unorthodoxer Beziehungsfilm entstanden ist. Wenn man dennoch seltsam beglückt aus dem Kino kommt, dann weil eben auch in Kafka Komödien versteckt sind. Man muss nur wissen, wie man sie zutage fördert.
Ob es ein Zufall ist, dass Ingmar Bergman „Szenen einer Ehe“ nur mit den Mitteln des Fernsehens in epischer Breite erzählen konnte? Wenn Netflix heute diese Rolle spielt, kann es Kinofans nur willkommen sein.
Woody Allens unglücklicher Deal mit Amazon hat einen überraschend schönen Film hervorgebracht: „A Rainy Day in New York“ – zu sehen nur im Kino.