Zu viel Werbung in NDR-Talkshow: „In der Regel kommen prominente Gäste nicht mehr ohne konkreten Anlass“

In Talkshows werden fast ausschließlich gut getarnte Verkaufsgespräche geführt. Wir haben uns die Gästeliste der „NDR Talk Show“ angeschaut – und die Redaktion konfrontiert.
Köln – Schriftstellerin Elke Heidenreich und Sängerin Nicole sind sich nicht einig. Ist eine Krankheit nur schlimm oder auch eine Chance? Man wertschätzt das Leben wieder stärker, ist mehr im Hier und Jetzt, argumentiert Nicole. „Krankheit ist keine Chance, Krankheit ist eine ganz große Scheiße“, sagt Heidenreich. Nicole spricht über wertvolle Erfahrungen, die man aus schweren Zeiten mitnimmt. Da nimmt man nichts mit, sagt Heidenreich. Jetzt noch eine Nachfrage und es wird richtig spannend. Aber Moderator Hubertus Meyer-Burckhardt tut etwas anderes. Er hebt den Finger, lächelt gequält, unterbricht die Diskussion – und kündigt die neue Comeback-Single von Nicole an.
Ein Interviewer, der eine aufkeimende Diskussion abwürgt, um zur Werbung überzuleiten: Willkommen in der „NDR Talk Show“. Die Anführungszeichen stehen hier aus zwei Gründen. Die Sendung im dritten Programm der ARD ist ein Eigenname. Und es geht nicht wirklich ums „Talken“, eher ums Verkaufen. Der Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA hat nachgezählt: Laut der Gästeliste auf der eigenen Homepage waren in den letzten zehn regulären Ausgaben 71 Menschen zu Gast. Davon hatten 56 Personen (Doppel-Gäste oder Gruppen werden als eine Person gezählt) etwas zu promoten – ein Buch, einen Film oder etwas Vergleichbares.
Die Kategorisierung ist nicht trennscharf. Bei manchen Gästen, zum Beispiel Schauspieler Moritz Bleibtreu oder „Pur-“Sänger Hartmut Engler, ist die Sache klar: Sie machen Werbung für ihren neuen Film bzw. die Konzerttournee. Schwieriger wird es bei den „Elevator Boys“; gutaussehende Jungs, die Stars auf Social Media sind. Sie sind laut Ankündigung eingeladen, um auf den Hass im Internet aufmerksam zu machen. Im Grunde ist aber jeder öffentliche Auftritt von ihnen auch immer ein bisschen Promo für die eigene Marke. Es gibt aber auch klarere Ausnahmen: Menschen wie Langstreckenschwimmerin Anke Höhne, die „einfach nur so“ da sind. Mehr als einen „anlasslosen Gast“ gibt es nicht pro Runde – und auch nicht in jeder Sendung.
„In der Regel kommen prominente Gäste heutzutage nicht mehr ohne konkreten Anlass“
Wie rechtfertigt der NDR die Schlagseite bei der Gästeauswahl? Man wolle eine möglichst „unterhaltsame, interessante und relevante Gästemischung“ gewährleisten. „Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass wir über die aktuellen Projekte der Protagonist:innen sprechen möchten. Auch, um unsere Zuschauer:innen bestmöglich über aktuelle Filme, Bücher, Konzerte und Theaterstücke zu informieren“, schreibt Carola Conze auf Anfrage unserer Redaktion. Sie leitet die Abteilung „Talk und journalistische Unterhaltung“.
Neben Redaktionskonferenzen und Tagespresse würden auch Managements, Plattenfirmen und Buchverlage eine Rolle spielen. „Sie setzen uns über anstehende Projekte in Kenntnis. In der Regel kommen prominente Gäste heutzutage nicht mehr in Talkshows, wenn sie keinen konkreten Anlass haben“, sagt Conze. Nicht selten würden sich Gäste auch initiativ bewerben oder werden von Dritten vorgeschlagen.
Jens Ruchatz beobachtet diese Entwicklungen. Er forscht an der Universität Marburg zur Geschichte des Interviews. Ruchatz will verstehen, wie „Celebrities“, also Prominente, interviewt werden. Wer wird befragt und worum geht es? Das Ergebnis seiner Untersuchungen: „Ein Interview kommt immer auch deswegen zustande, weil der Gesprächspartner seine Persönlichkeit verkaufen will. Das war schon im 19. Jahrhundert so.“

Medienwissenschaftler zu Talkshows: „Darunter leidet die Spannung“
Dass es in den Gesprächen fast immer um Neuveröffentlichungen geht, überrascht Ruchatz nicht. „Beide Seiten wollen etwas. Das Management der Gäste will einen Film, ein Buch oder etwas Vergleichbares verkaufen, die Redaktion will mit bekannten Gesichtern Quote machen. Dieses Spiel hat sich in den letzten Jahren verselbstständigt. Darunter leidet die Spannung“, sagt Ruchatz.
Dass Gäste ihr Produkt in die Kamera halten, ist nicht neu und keine Spezialität der „NDR Talkshow“. Auch bei Late-Night-Shows wie „TV total“ auf Pro7 oder in den anderen Talkformaten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks („Riverboat“, „Kölner Treff“ usw.) spricht und sprach man in der Regel auch über das, was Gäste mitbringen. Gibt es dazu einen Zwang? Nein, sagt NDR-Redakteurin Conze. „Buchverlage, Plattenfirmen und Managements haben keinen Einfluss auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung eines Gespräches. Die Redaktion entscheidet, ob und in welcher Intensität über ein Thema gesprochen wird. Ausschnitte aus Filmen oder Trailer blenden wir ein, weil wir die Themen unserer Gäste gerne illustrieren.“
Medienwissenschaftler Ruchatz findet es nicht an sich problematisch, dass Gäste etwas verkaufen wollen. Eher die Antwort auf die Frage: Wie werden die Gespräche geführt? „Wenn man für jeden Gast nur zehn Minuten Zeit hat, jeder einmal drankommen muss und auch noch das entsprechende Produkt untergebracht werden soll, dann ist die Gefahr groß, dass es flach wird.“ Ruchatz‘ Vorschlag: „Ein Gast, viel Zeit – dann ist die Chance größer, dass statt Floskeln auch Überraschendes erzählt wird.“ Podcasts würden beweisen, dass dieses Konzept funktioniert.
„Dass sich heute oft geduzt wird, finde ich unglücklich“
In der Vergangenheit hätten Talkshows sich mehr Zeit genommen, sagt Ruchatz. „Ich habe die erste ‚3nach9‘-Sendung (die älteste deutsche TV-Talkshow) aus dem Jahr 1974 analysiert. Der wichtigste Unterschied zu heute: Die Sendung wurde live ausgestrahlt und hatte kein zeitliches Limit. Es wurde so lange gesendet, bis nichts Interessantes mehr zu sagen war.“ Dem Experten ist noch ein wichtiges Detail aufgefallen: „Dass sich heute oft geduzt wird, finde ich unglücklich. Es suggeriert, dass Moderatoren und Gäste schon miteinander vertraut sind. Man kennt sich, man versteht sich, man hat das gleiche Interesse. Das wäre in den Anfängen der Talkshow undenkbar gewesen.“
Vielleicht vermisst Hubertus Meyer-Burckhardt diese Zeiten auch und er hat selbst ein Problem damit, zwischendurch Werbung anzusagen. Als der Moderator die neue Single von Nicole ankündigt, verhaspelt er sich: „Nicole ist zurück mit ihrer neuen Single. Und wir müssen – äh, dürfen – uns jetzt einen Ausschnitt anschauen.“