"Wolf of Wall Street": Pervers ist das Geld
Berlin - Martin Scorsese inszenierte "Wolf of Wall Street" mit dem großartigen Leonardo DiCaprio als irrwitzige Börsensatire. Hier der Kinotrailer und unsere Filmkritik:
Es gibt in diesem Film sehr viele sehr gute Szenen, die weit über das hinausweisen, was sie zeigen. Aber es gibt diese eine Aufnahme in „The Wolf of Wall Street“, dem großartigen neuen Film von Martin Scorsese, die noch ein bisschen mehr als alle anderen verrät: über diese Produktion, über diese Geschichte – und auch darüber, warum es für Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio mal wieder schwer werden dürfte, trotz dieser überzeugenden und stimmigen Schauspielleistung einen Oscar zu gewinnen.
Wir sehen also in jener Szene, beinahe leinwandfüllend, die wohlgeformten, nackten Pobacken einer Prostituierten. Wir hören das kräftige Geräusch eines Mannes, der mit einem Einatmen die ganze Welt auf einmal in seine Nase ziehen zu wollen scheint. Dann taucht hinter den Gesäßbacken der von DiCaprio gespielte Börsenmakler Jordan Belfort auf. Er hat sich das Koks aus der Po-Ritze der Nutte direkt ins Gehirn gesaugt. In dieser Szene, in dieser Figur steckt die ganze animalische Gier des Kapitalismus. „The Wolf of Wall Street“ zeigt eben nicht nur Nacktheit, Sex und Drogenmissbrauch sehr explizit. Von der drastischen Wortwahl der Figuren ganz zu schweigen. Für manche in den USA mag all das zu offensiv sein – so war zu hören, dass sich Regisseur und Hauptdarsteller unlängst wütenden Protest von Mitgliedern der Oscar-Academy anhören mussten. War das pars pro toto, kann sich DiCaprio, mal wieder, den wichtigsten Filmpreis der Welt abschminken. Gleichwohl er ihn verdient hätte. Mal wieder.
Scorsese, der ja schon einen Oscar gewonnen hat (für „Departed“, 2007, ebenfalls mit DiCaprio), inszenierte hier Drogenrausch und sexuelle Ausschweifungen nicht um der Provokation willen. Ihm geht es um das satirische Porträt eines Finanzjongleurs. Das Koks, das die Synapsen in Belforts Hirn heißlaufen lässt, scheint auch diesen dreistündigen, und dennoch keine Minute zu langen Film voranzupeitschen: Aufgekratzt und schillernd entwickelt sich die Geschichte. Jedoch verliert Scorsese nie aus den Augen, was er erzählen möchte. Das ist meisterhaft.
Nach einer wahren Begebenheit
Basierend auf den Lebenserinnerungen des echten Jordan Belfort, den sie den „Wolf der Wall Street“ nannten, führt der Regisseur tief hinein ins Zentrum des westlichen Kapitalismus. Wir erleben Belforts Aufstieg als Börsenmakler, der es zu mächtigem Reichtum bringt, als er mit seiner scheinbar seriösen Firma Aktien an Klein-Anleger verscherbelt – und ordentlich in eigene Taschen wirtschaftet. Da dieses Handelssegment kaum überwacht wird, kann Belforts „Stratton Oakmont“ millionenfach Sparern den Traum vom raschen Gewinn verkaufen. Geld sprudelt – für seine Firma.
So wenig wir dem scheinbar smarten Glücksritter trauen sollten, so wenig ist Scorseses Bildern zu trauen. Die Inszenierung spielt mit unserer Wahrnehmung. Immer wieder spricht Belfort uns von der Leinwand direkt an, dann säuselt uns seine Erzählstimme Versprechungen ins Ohr oder korrigiert gar das Geschehen auf der Leinwand: Sein Ferrari sei weiß, nicht rot – prompt wechselt der Wagen die Lackierung.
Wie ein prächtiger Werbespot wirken diese Szenen. So offenbaren sie umso krasser den Bruch zur Realität: Die Sparer finanzieren mit ihren Einlagen – die Orgien der Aktienhändler. In der „Stratton Oakmont“ wird nackt auf den Tischen getanzt und mit Kleinwüchsigen auf eine Zielscheibe mit einem Dollar-Zeichen in der Mitte geworfen, wenn mal wieder ein Rekord gebrochen wurde. Doch pervers sind hier weder der Sex noch die Huren oder das Koks. Pervers ist einzig das Geld.
Oscargewinner: Die besten Hauptdarsteller seit 2000
Fixstern dieses finanziellen Phantasialandes ist Jordan Belfort, dem Leonardo DiCaprio eine wache, wandelbare Präsenz gibt. Es ist die fünfte Zusammenarbeit dieses so begabten Schauspielers mit Martin Scorsese. Und „The Wolf of Wall Street“ markiert den (vorläufigen) Höhepunkt ihres Schaffens. Virtuos vollzieht DiCaprio den Wandel vom unsicheren Börsenneuling zum internationalen Finanzhai. Immer wieder gibt Scorsese seinem Hauptdarsteller Gelegenheit, schauspielerische Glanzpunkte zu setzen. Etwa in den Ansprachen, die Belfort an seine Mitarbeiter richtet. Als seine Firma noch in Kinderschuhen steckt, motiviert er seine Getreuen, indem er sie mit Käptn Ahab vergleicht: mit der Harpune in der Hand auf der Jagd nach dem Wal. Etliche Millionen-Dollar-Gewinne später wird sich diese Szene beinahe identisch in größeren Räumen und vor sehr viel mehr Mitarbeitern wiederholen. Nur dass Belfort inzwischen statt von Harpunen von M16-Gewehren spricht, mit denen seine Leute das Geld der Ahnungslosen zur Strecke bringen sollen.
„Das FBI kann mich mal“
Es ist ebenfalls eine Rede Belforts, die den Höhepunkt des Films markiert: Er wird inzwischen vom FBI gejagt, nicht nur sein Vater rät ihm, sich vom Chefposten zurückzuziehen. Trauer herrscht in der Firma, als er Abschiedsworte an die Mannschaft richtet. Dann aber dreht DiCaprio die Figur behutsam, doch glaubwürdig. Und was als Rücktrittsrede begann, wird zum furiosen Verbal-Angriff, zum „Das FBI kann mich mal“. Und einmal mehr zeigen Scorsese und DiCaprio: Hier geht es nicht mehr ums Geschäft. Hier geht es längst um Religion.
Von Michael Schleicher
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