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Band "Rammstein" provoziert mit KZ-Kleidung - dahinter steckt Kalkül

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Rammstein
Rammstein inszenieren sich © Axel Heimken/dpa

Es hat abermals geklappt. Große Aufregung: „Rammstein“ veröffentlicht am 17. Mai ein neues Album – ein Vorab-Video versetzt das halbe Land in Aufruhr.

Berlin - Fahles Licht. Man hört ein grauenhaftes, bedrohliches Rumoren. Die Kamera blickt von unten in das erstarrte Gesicht eines Mannes. Der Kopf steckt in einer Schlinge aus grobem Seil. Im Hintergrund wird eine riesige graue Betonwand sichtbar, Eisengitter in glaslosen Fenstern. Bunkeranlage? Industrieruine? Ein Holzbalken rückt ins Bild, der Galgen. Der Körper steckt in einer Sträflingskluft, wie sie die Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern trugen. Das Opfer ist Christian „Flake“ Lorenz, der Keyboarder der deutschen Band „Rammstein“. 

Rammstein inszenieren sich als KZ-Insassen

Die Kamera fährt langsam zurück. Noch einer mit Strick um den Hals. Aus seiner rechten Augenbraue ist Blut die Schläfe heruntergeflossen. Der Dritte hält den Kopf leicht gesenkt, seine Augen scheinen nach innen gerichtet. Für einen Moment sieht man auf seiner linken Brust einen gelben Stern. Jüdische KZ-Häftlinge mussten ihn tragen. Zuletzt ein vierter „Rammstein“-Musiker am Strick. Schnitt. In Frakturschrift erscheint „Deutschland“, dazu in römischen Ziffern das Datum von gestern.

Das Video im Netz dauert 35 Sekunden. 35 schaurige Sekunden. Ist das Werbung? Ist das Kunst? Was soll das? Seit gestern Morgen steigt die Erregungswelle. „Bild“ ist online entrüstet. Der Historiker Michael Wolfssohn weiß kurz nach dem Aufstehen auf Facebook: „Leichenschändung, inakzeptabel.“ Jüdische Verbände äußern sich empört. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung richtet aus: „Eine Inszenierung als todgeweihte KZ-Häftlinge stellt die Überschreitung einer roten Linie dar.“ 

Band phantasiert grausame und abgründige Welt

Im Netz wogt es hin und her: Faschisten-Band, wir haben es immer gewusst. Sagen die einen. Abwarten, sagen die andern. Ist die für ihre Provokationen berüchtigte Band diesmal zu weit gegangen? Der Holocaust, die Todesfabriken, sechs Millionen ermordete Juden – das deutsche Thema, das deutsche Trauma, das deutsche Tabu. Darf man das? Sogleich zucken die moralischen und politischen Reflexe – wie zuvor bei den Riefenstahl-Szenen („Stripped“), bei Pornografie („Pussy“), dem Kannibalen Armin Meiwes („Mein Teil“). Mehrmals wurde von der Prüfstelle indiziert – und wieder zurückgezogen. Die Texte von Till Lindemann sind dunkel und morbide. Sie fantasieren sich in eine grausame, abgründige Welt, wie sie der US-Regisseur David Lynch („Lost Highway“) ausmalte und mit „Rammstein“-Musik unterlegte. 

Der „Rammstein“-Kosmos ist brutal und zynisch, voller Kitsch auch, Sentimentalität und schwarzer Romantik. Hier wabern deutsche Märchen und Mythen, hier wohnen böse Onkels, satanische Engel, Monster und Matrosen. Es ist eine Welt der Extreme zwischen Liebe und Hass, Feuer und Asche, übersetzt in pathetisch-martialische Gesänge zu brachialen Gitarren-Riffs und psychedelischen Keyboard-Sounds. „Rammstein“ ist das Deutscheste, was Deutschland seit der Wende hervorgebracht hat: „Rammstein“ steht für eine Vorstellung von deutschem Wesen, die im Land selbst wie in der Welt draußen verbreitet ist. Ob in Frankreich, USA, Osteuropa oder Lateinamerika: „Rammstein“ wird als urdeutsch empfunden – so wie die Maler Neo Rauch und Anselm Kiefer, wie Luther, Biermetaphysik und Marschmusik, der Schwarzwald oder die zwischen Kasperle, Übermensch und Verbrecher schillernde Figur des Faust. 

„Rammstein“ inszeniert eine Klischee-Fantasie

„Rammstein“ inszeniert eine Klischee-Fantasie dessen, was als deutsch gilt: derb, roh, schwermütig und finster, gedankentief, gefühlvoll, barbarisch. Lindemanns Texte spielen mit ihnen, treiben sie weiter, oft ironisch-mehrdeutig, manchmal bis zum wüsten Exzess. Mitunter sind es Geniestreiche, mitunter geschmackloser Murks. Dabei ist von Bedeutung, dass die 1994 gegründete Band aus Ostdeutschland stammt. Dort sah man nach dem Mauerfall mit anderen Augen auf die Feier von Geld, Sex und Erfolg, die Verherrlichung von Gewalt in Literatur und Film, auf Profitgier, Ich-Kult und den Ausverkauf moralischer Werte im kapitalistischen Westen. „Rammstein“ war stets der dunkle Zerrspiegel, in dem der Westen, der doch beanspruchte, das Bessere zu repräsentieren, sein zweites Gesicht sah: die nihilistische Fratze. 

Wie kein anderes künstlerisches Unternehmen versteht es „Rammstein“, die Mechanismen der Erregung von Aufmerksamkeit mittels Provokation und Skandalisierung zugleich zu nutzen und in ihrer Mechanik zu entlarven. Schon immer spielte „Rammstein“ auf der Klaviatur der Reizworte und verbotenen Zeichen. Um 18 Uhr an diesem 28. März 2019 läuft das ganze Video zur Single im Netz, rund neun Minuten lang: „Deutschland“. 

Es ist eine surreale Fantasmagorie deutscher Geschichte, vom Mittelalter bis ins Gentechnik-Zeitalter – Bauernkriege, Nazi-Zeit, DDR-Sozialismus, 1. Mai-Schlachten, blutig, brutal, eine Geschichte von Kämpfen. Mittendrin eine schöne dunkle Königin und ihre Dobermänner. Die Szene des 35-Sekunden-Clips ist Teil dieses infernalischen Bildersturms in Überwältigungsästhetik. Lindemann singt dazu von widerstreitenden Gefühlen (siehe Textauszug). Eine Verklärung ist „Deutschland“ nicht. Ein Beitrag zur Lage der zerrissenen Nation? Man kann es ignorieren. Man kann sich empören. Man kann die Kunst darin sehen. Aber jeder weiß jetzt: „Rammstein“ ist wieder da.

VON MICHAEL KLUGER

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