Wissenschaftlerin berechnet herbe Corona-Prognose für Deutschland - und legt in der ARD nach
Coronavirus-Maßnahmen in Deutschland: Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim warnt vor der Idee der Herdenimmunität - und erhält Zuspruch von Christian Drosten.
- Während der Corona*-Krise gelten strenge Maßnahmen, die das öffentliche und private Leben einschränken.
- Während einige Politiker einen baldigen Exit fordern, halten sich andere eher bedeckt.
- Die Wissenschaftlerin und ARD/ZDF-Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim (maiLab) warnt vor der Idee der Herdenimmunität und erhält Zuspruch von Christian Drosten.
- Hier finden Sie die grundlegenden Fakten zum Coronavirus, aktuelle Fallzahlen weltweit und die jüngsten Entwicklungen in Deutschland.
Update vom 8. April, 10.25 Uhr: Die Corona-Krise habe gerade erst begonnen - so der Tenor von YouTuberin und Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim auf ihrem Kanal „maiLab“ und auch in ihrem Kommentar in den ARD-Tagesthemen.
Nguyen-Kim: "Schon werden ungeduldige Stimmen laut, die einen schnelleren Ausweg durch Herdenimmunität fordern. Klingt verlockend - doch die Idee ist faul."
Nguyen-Kim erhält für ihre Thesen prominenten Zuspruch „Sehr richtig“, sagt Virologe Christian Drosten auf Twitter.
Der Forscher weiter: „Und eine eventuelle Dunkelziffer kann man nur durch geografisch breit angelegte Untersuchungen bestimmen. Hier sollten wir zum gegenwärtigen frühen Zeitpunkt der Epidemie nicht all zu viel erwarten.“
Die Wissenschaft ist sich also einig: Corona wird unseren Alltag wohl noch viel länger diktieren, als uns lieb ist.
"Wir sind erst am Anfang einer langen Epidemie. Doch schon werden ungeduldige Stimmen laut, die einen schnelleren Ausweg durch Herdenimmunität fordern. Klingt verlockend - doch die Idee ist faul"
Corona: Prognose einer Wissenschaftlerin
München - Mai Thi Nguyen Kim hat in Deutschland und den USA Chemie studiert und dazu promoviert, gemeinsam mit Harald Lesch trat sie in Wissenschaftssendungen auf. Seit 2016 betreibt sie, in Zusammenarbeit mit ARD und ZDF, den Youtube-Kanal maiLab, der vor allem jungen Menschen naturwissenschaftliche Themen näher bringt. Ihr jüngstes Video vom 1. April erreichte bis heute (Stand 6. April) über drei Millionen Zuschauer - obwohl sie darin einige Dinge anspricht, die ihrer Zielgruppe nicht gut gefallen dürften, oder gerade deshalb.
„Das Problem ist, dass jetzt bei einigen der Eindruck entsteht, dass wir das Ganze vielleicht nach Ostern, vielleicht ein bisschen später, einigermaßen glimpflich überstanden haben. Diese Vorstellung ist leider realitätsferne Fantasie.“
Youtuberin Mai Thi Nghuyen-Kim (maiLab): Die Corona-Krise geht gerade erst los
„Solange wir keinen Impfstoff haben, ist die Pandemie erst vorbei, wenn sich 60 bis 70 Prozent der Menschen infiziert haben, erholt haben und dann erst mal immun sind“, so Mai Nguyen-Kim. Bei aktuell 73.000 bekannten Fällen, könne man davon ausgehen, dass in etwa 730.000 Menschen insgesamt bereits infiziert sind oder waren - 48 bis 56 Millionen infizierter Menschen würden erst die Herdenimmunität garantieren. Damit macht sie ihren Zuschauern klar: „Die Corona-Krise geht gerade erst los. Bevor wir einen Impfstoff haben, wird sie nicht vorbei sein.“
Coronavirus: Wie flach muss die Kurve werden?
Mit Modellierungen versuchen Wissenschaftler derzeit abzuleiten, mit welchen Maßnahmen man die Epidemie* wie beeinflussen kann. Bei etwa 30.000 vorhandenen Intensivbetten, von denen zuletzt die Rede war, und zwei bis fünf Prozent aller infizierten Personen, die darauf angewiesen seien, für zehn bis 20 Tage in einem solchen Bett zu liegen, dürfe ein Erkrankter nur noch 1,1 weitere Menschen anstecken. Unter dem Strich heißt das bei Mai Nguyen-Kim vom YouTube-Kanal maiLab: „Um den Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu vermeiden, müssen wir strenge Maßnahmen für ein bis zwei Jahre aufrechterhalten. Und das geht nicht.“ Was sind die Alternativen?
Coronavirus-Maßnahmen: Alternativen zu Flatten-the-Curve-Strategie
Um Alternativen zu verstehen, muss man zunächst wissen, dass Epidemien* in Phasen verlaufen. Zwei davon sind:
Phase 1 | Containment | Eindämmung | Kranke isolieren, Kontakte nachvollziehen |
Phase 2 | Mitigation | Schadensbegrenzung | Abstand halten, strenge Maßnahmen, Flatten the Curve |
Nguyen-Kim vom YouTube-Kanal maiLab ordnet das so ein: „Die Strategie Flatten-the-Curve bis zur Eindämmung der Epidemie wird nicht aufgehen. Abflachen alleine würde zu lange dauern. Wir müssen die Kurve stoppen und wieder zu Phase 1, Containment, zurückkehren. Dann würde für einen Großteil wieder so etwas wie Normalität einkehren und die Isolation von Kranken und die Nachverfolgung der Kontakte könnte wieder praktiziert werden.“
Ob die aktuellen Maßnahmen dahingehend tatsächlich ausreichen, müssten erst Daten zeigen. In einer eigenen Modellrechnung kommt Nguyen-Kim zu dem Schluss, dass auch in diesem Fall alle strengen Maßnahmen etwa 56 Tage lang durchgehalten werden müssten - das sei aber keine Prognose.
Coronavirus-Maßnahmen: Wie kann es weitergehen?
Am Ende macht sie klar: „Wir arbeiten auf eine Lockerung der Maßnahmen hin, aber ganz ohne Verzicht werden wir lange Zeit nicht auskommen. Fußballstadien, Konzerte, Konferenzen, Après-Ski in diesem Jahr? Vergesst es!“
Bis zum Impfstoff müssten wir alle durchhalten - denn natürliche Herdenimmunität sei nur unter zu hohen Preisen für das Gesundheitssystem oder Psyche und Wirtschaft zu erreichen. Ihre gute Nachricht: Phase 1 sei beim zweiten Mal nicht mehr die gleiche: Wissen, Test- und Krankenhauskapazitäten, Personal in Behörden und Akzeptanz in der Bevölkerung seien dann viel weiter.
Coronavirus-Maßnahmen: Eine Sache kann Nguyen-Kim von maiLab nicht klären?
Nguyen-Kim sagt selbst, dass sie sich auf Modellrechnungen (u.a. des Robert-Koch-Instituts) stützt, jede Epidemie aber individuell verlaufe. Unbekannte Größen seien etwa saisonale Verläufe oder die vergleichsweise asymptomatischen Verläufe bei vielen Menschen.
Dennoch scheint das Szenario - Durchhalten der strengen Maßnahmen, Rückkehr zu etwas lockeren Maßnahmen - ein realistischer Weg zu sein. Um konkrete Maßnahmen ableiten zu können, muss erst die Datengrundlage verbessert werden, das sehen vielfach auch Experten und Politiker so - während über Einzelheiten durchaus Uneinigkeit herrscht, wie etwa bei Anne Will deutlich wurde. Obwohl besonders aus der Wirtschaft Rufe nach früheren Lockerungen laut werden, finden die Maßnahmen besonders in der Bevölkerung einer Umfrage zufolge noch große Zustimmung. Doch eine Antwort bleibt die Youtuberin schuldig: Wie könnte die Rückkehr zu Phase 1 für Menschen aus Risikogruppen aussehen?
Warum besonders Einmalhandschuhe keine gute Idee sind, twitterte jetzt ein Arzt.
Indessen zeigte sich ein ARD-Kommentar verständnisvoll gegenüber den Corona-Demonstranten: „Da hört der Spaß auf!“
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