„Es ist leider noch nicht vorbei“: Immunologe Timo Ulrichs warnt vor neuer Corona-Welle

Timo Ulrichs warnt vor verfrühten Lockerungs-Schritten. Der in Fulda aufgewachsene Immunologe wirbt im Interview für eine allgemeine Impfpflicht, um aus der „Endlos-Schleife“ der Corona-Wellen zu kommen, und stärkt RKI-Chef Lothar Wieler den Rücken.
Fulda/Berlin - Der Immunologe Timo Ulrichs warnt im Interview vor einer möglichen Corona-Welle im Herbst. Die Impfabdeckung sei in Deutschland noch zu niedrig.
Partystimmung in Paris, die Schweiz und Österreich beenden fast alle Schutzmaßnahmen. Öffnet Deutschland nach dem Peak der Omikron-Welle zu zögerlich?
Nein, eher zu schnell. Was eine verfrühte und umfassende Öffnung bedeuten kann, zeigen die stark steigenden Covid-19-Todeszahlen in Dänemark. Lockerungen sind im absteigenden Teil der Omikron-Welle möglich, sollten aber stufenweise erfolgen mit der Option, Anteile davon wieder zurückzunehmen, sollte sich herausstellen, dass einzelne Öffnungsschritte die Omikron-Welle verbreitern und damit einen Übergang in eine Niedriginzidenzphase verzögern. Gerade angesichts des sich ausbreitenden BA.2-Subtyps sollte eher vorsichtig vorgegangen werden. (Mit dem Corona-News-Ticker für Fulda bleiben Sie auf dem Laufenden.)
Corona: Immunologe warnt vor nächster Welle - „Es ist leider noch nicht vorbei“
Müssen alle Schnell- und PCR-Tests ob einer hohen Unzuverlässigkeit beim Nachweis der Omikron-Variante auf den Prüfstand?
Ja, hier wäre eine Überprüfung sinnvoll, wenn damit dann auch verbunden wäre, untaugliche Testsysteme vom Markt zu nehmen. Zu dem schwierigeren Nachweis der Omikron-Variante kommt ja noch der Umstand, dass die Immunantwort bei dreimal Geimpften so gut ist, dass nicht ausreichend Viren im Nasenrachenraum von Infizierten gebildet werden, sodass die Tests falsch negativ sein können.
Wie viel Vertrauen in die Corona-Politik hat das Hickhack um den Genesenenstatus zerstört?
Die Reduzierung der Zeit, in der der Genesenenstatus gilt, kam etwas plötzlich und wurde schlecht kommuniziert, obwohl diese Reduzierung wissenschaftlich gut begründbar ist. Das ist schade, denn letztendlich diente ja die Maßnahme dazu, die Sicherheit in der Bevölkerung zu erhöhen und die Ausbreitung des Virus’ zu erschweren.
Ist RKI-Präsident Lothar Wieler nach den wiederholten Pannen bei der Kommunikation seiner in der Kritik stehenden Behörde noch tragbar?
Das ist eher eine politische Frage, denn vergleicht man die Kommunikation rund um den Genesenenstatus mit Kommunikationspannen in der Frühphase der Pandemie, so zeigt die Diskussion darum eher die Corona-Müdigkeit in der Gesellschaft als zunehmende Defizite im RKI. Im Gegenteil, ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass wir trotz einiger Pannen und Fehleinschätzungen recht gut durch die Pandemie gekommen sind, und das ist nicht zuletzt der Kompetenz im RKI zu verdanken.
Immunologe Timo Ulrichs stärkt RKI-Chef Lothar Wieler den Rücken
Zur Person
Prof. Dr. Timo Ulrichs ist Immunologe, Mikrobiologe und Gesundheitswissenschaftler. Der 1971 in Fulda geborene Professor für internationale Not- und Katastrophenhilfe lehrt an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin und ist in der Pandemie ein gefragter Experte.
Die erste Debatte über eine allgemeine Impfpflicht soll erst im März im Bundestag stattfinden. Quasi wenn alle einem lockeren Frühling entgegenblicken. Halten Sie eine Impfpflicht vor dem Hintergrund, dass 88 Prozent der Über-60-Jährigen geimpft sind, überhaupt noch für notwendig?
Ja, an den Gründen für eine Impfpflicht hat sich nichts geändert, auch wenn der Infektionsdruck frühlingsbedingt nun etwas nachlässt. Aber viele im Bundestag könnten der Meinung sein, eine saisonbedingte Entspannung der Corona-Situation könnte die Impfpflicht überflüssig machen. Das wäre in etwa vergleichbar mit sinkenden Pegelständen nach einem Hochwasser und der Auffassung, nun sei es ja nicht mehr nötig, Hochwasserschutzanlagen zu verstärken, denn nun sei ja alles wieder im Lot.
Aber das Hochwasser wird wiederkommen – im Rahmen der Pandemie in Form einer großen Welle im Herbst, wenn es uns bis dahin nicht gelingen wird, die Hochwasserschutzanlagen sicher zu machen, sprich durch Impfen eine Grundimmunität in die Bevölkerung zu bringen. Und leider haben wir immer noch drei Millionen ungeimpfte Menschen, die älter als 60 Jahre sind und im Herbst ein hohes Risiko haben, mit schweren Covid-19-Verläufen ins Krankenhaus zu müssen.
Video: Omikron-Subtyp BA.2 legt laut RKI weiter zu
Das deutsche Gesundheitswesen war während der Pandemie nie an der Belastungsgrenze. Können nach dem 19. März alle Anti-Corona-Maßnahmen auslaufen?
Diese Aussage ist nicht richtig und schätzt die Situation in deutschen Krankenhäusern völlig falsch ein. Wir hatten während der Delta-Welle sogar eine sogenannte weiche Triage, das heißt, es gab so viele (in den meisten Fällen ungeimpfte) intensivpflichtige Covid-19-Patienten, dass viele andere behandlungsbedürftige Patienten hintenanstehen mussten – mit zum Teil gravierenden Auswirkungen auf ihren jeweiligen Krankheitsverlauf.
Das Personal im Gesundheitswesen in Deutschland ist erschöpft, viele wechseln ihren Beruf und gehen unserem Gesundheitssystem verloren. In der Delta-Welle standen deshalb bereits wesentlich weniger Intensivbetten zur Verfügung als während der zweiten Welle. Die mittel- bis langfristigen Folgen dieser Entwicklung für unsere Gesundheitsversorgung sind noch gar nicht abzusehen.
Die Corona-Maßnahmen können zum Frühling weitgehend gelockert werden. Jedoch müssen wir uns darauf einstellen, sie im Herbst wieder einzusetzen, wenn eine weitere Welle unser Gesundheitssystem wieder an die Belastungsgrenze führen wird. Eine Welle, deren Höhe und Auswirkungen sich durch konsequentes Impfen stark begrenzen ließen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wird von Kritikern als „Angstminister“ bezeichnet. Warnt der Ethikrat zu Recht vor Bedrohungsszenarien ins Blaue hinein?
Die Warnungen von Herrn Lauterbach vor steigenden Todeszahlen waren nicht ins Blaue hinein gesagt, sondern basierten auf mathematischen Modellen. Und in der Tat ist zwar der Peak der Neuinfiziertenrate der Omikron-Welle überschritten, aber noch lange nicht der der Krankenhauseinweisungen und der Covid-19-Todesfälle.
Natürlich sollte nicht unnötig Angst geschürt werden, aber es ist auch richtig, einer Verharmlosung der Corona-Pandemie entgegenzuwirken und mögliche Auswirkungen eines zu laxen Umgangs auch klar zu benennen. Und wir haben in Deutschland leider unsere Hausaufgabe noch nicht gemacht, sprich die Impfabdeckung ist immer noch zu niedrig, als dass wir entspannt dem Herbst entgegensehen könnten. Es ist leider noch nicht vorbei …
Das vollständige Interview mit Timo Ulrichs lesen Sie in der Dienstagausgabe (22. Februar) der Fuldaer Zeitung und im E-Paper. Online erscheint eine gekürzte Fassung.