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„Keine Richtschnur“: Virologe Hendrik Streeck kritisiert Corona-Politik scharf

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Von: Sebastian Reichert

Professor Hendrik Streeck, Direktor des Institut für Virologie an der Uniklinik in Bonn, sitzt in einem Labor seines Instituts.
Corona-Virologe Hendrik Streeck hält Inzidenzwert und Neuinfektionen-Zahlen für keine sinnvollen Richtwerte. © Federico Gambarini/dpa

Corona-Experte Hendrik Streeck betrachtet sowohl den Inzidenz-Wert als auch die tägliche Zahl der Neuinfektionen als nicht sinnvolle Richtwerte bei der Bekämpfung der Pandemie. Die Inzidenz sei „nicht vergleichbar mit dem im Sommer, wo wir die Dunkelziffer durch massives Testen viel besser ausgeleuchtet haben“.

Fulda - „Wir (haben) weiterhin keine Richtschnur, keinen Kompass definiert und (hängeln) uns daher weiterhin von Lockdown zu Lockdown“, sagte Virologe Hendrik Streeck unlängst im Gespräch mit der „Rheinischen Post“ aus Düsseldorf. Im Interview mit der unserer Zeitung plädierte der Experte aus Bonn bereits Mitte Oktober dafür, sich in der Corona-Krise nicht nur an Infektionszahlen zu orientieren und schlug ein Ampelsystem vor. 

Virologe Hendrik Streeck: Corona-Inzidenz-Wert vermittelt „völlig falsches Bild“

Der Inzidenz-Wert vermittele „inzwischen ein völlig falsches Bild, da wir die Teststrategie ständig verändert haben. Bei den Zahlen der Neuinfektionen sehen wir, dass diese eigentlich nicht mehr ausschlaggebend sind, sondern wir vielmehr die Auslastung der Intensivstationen im Fokus haben“, sagte Streeck im Interview mit der „Rheinischen Post“. Das sei die zentrale Frage. Schon bei 4000 mit Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten sei die Kapazitätsgrenze erreicht.

Der Mangel an Fachpersonal schlage voll durch. „Das müssen wir ernst nehmen und dieses nicht erst durch Corona offensichtliche Problem endlich lösen“, forderte der Leiter der Covid-19-Fallcluster-Studie (Heinsberg-Studie), der zudem nochmals darauf hinwies, dass Grenzwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner „ein von der Politik definierter Grenzwert“ ist. Er werde aber „von vielen als ein wissenschaftlicher Grenzwert wahrgenommen“.

Corona: Virologe Hendrik Streeck: Inzidenz-Wert ist kein sinnvoller Richtwert

Neben dem Inzidenz-Wert sei auch die Zahl der gemeldeten Corona-Neuinfektionen wenig aussagekräftig. „Am 3. November ist die Teststrategie angepasst worden – seitdem werden nur noch symptomatische Fälle getestet, die auch Kontakt zu Infizierten hatten.“ Zudem würden auch die Antigentests, die nicht erfasst werden, das Bild verzerren. „Die aktuellen Zahlen der Neuinfektionen vermitteln ein falsches Bild und sollten (...) daher nicht dem Zweck politischer Entscheidungen dienen.“

Streeck sprach in dem Interview Klartext: „Derzeit wissen wir (...) nicht, wer sich wo und wie überhaupt ansteckt, warum es überhaupt noch Infektionen gibt, wir tappen einfach im Dunkeln.“ Der Virologe plädierte dafür systematische, repräsentative Stichproben zu erheben, „um zu verstehen, wie das Infektionsgeschehen wirklich aussieht“. Zudem sei es sinnvoll die Berufsgruppen der Infizierten zu erfassen, um zu sehen, welche Berufsgruppen besonders betroffen sind.

Corona-Virologe Hendrik Streeck hat Empfehlung für das Bundesgesundheitsministerium

„Das muss aus dem Bundesgesundheitsministerium kommen“, sagte der Professor für Virologie und Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Uni Bonn. Im Gespräch mit der Redaktion von „1&1 Mail & Media“ forderte Streeck zudem einen „Pandemie-Rat“ für Deutschland, ein Gremium mit Experten aus vielen verschiedenen Fachbereichen. So wie in Nordrhein-Westfalen.

In Bezug auf die aktuellen Coronavirus-Mutationen gab der Virologe, der Entspannung in den Sommermonaten erwartet, vorsichtig Entwarnung: Mutationen von Coronaviren seien nicht ungewöhnlich, und die britische Variante sei nicht dramatisch stärker infektiös. „Es gibt keinen Grund, in Panik zu geraten“. Ähnlich hatte sich zuletzt auch Virologin Sandra Ciesek im NDR-Info-PodcastCoronavirus-Update“ geäußert. Ciesek riet nach einem Corona-Ausbruch in einem Pflegeheim, dann dort sofort die noch nicht betroffenen Personen zu impfen.

Hendrik Streeck: Können Corona-Mutationen nicht dauerhaft aus Deutschland fernhalten   

Im Fernsehsender Phoenix sagte Streeck zum Thema Corona-Mutation: „Man darf nicht den Fehler machen, zu glauben, dass man Deutschland isoliert sehen kann. Varianten entstehen nicht unbedingt bei uns, das passiert in Indien, Brasilien oder Amerika, wo gar keine Eindämmung stattfindet. Selbst, wenn wir es kurzfristig schaffen sollten, eine Variante fernzuhalten, wird uns das wahrscheinlich nicht dauerhaft gelingen.“

Dass Viren mutierten und sich veränderten, sei nicht außergewöhnlich, das passiere andauernd, so der Virologe der Uni Bonn. Vom Sars-CoV-2-Virus seien bereits über 4000 Mutationen beschrieben. Bei den Fällen in Großbritannien und Südafrika sei das Virus aber bereits soweit verändert, dass man von einer neuen Variante sprechen könne. Im Hinblick auf die Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe zeigte Streeck sich zuversichtlich, das Gute an Impfstoffen sei, dass man nicht erneut bei null beginnen müsse, sondern die Varianten einbauen könne.

Eine gute Impfstrategie könne dabei helfen, die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. „Das Virus verhält sich wie andere Corona-Viren: Wir sehen im April/Mai ein langsames Abflachen über die Zeit, ruhige Sommermonate und einen plötzlichen Anstieg im Oktober/November. Wenn wir jetzt den Sommer nutzen, um zu schauen, welche Hygienekonzepte funktionieren und weiter impfen, besteht die Hoffnung, dass wir weniger Infektionen bekommen und die, die infiziert sind, einen weniger schweren Verlauf haben“, so Streeck.

Virologe Hendrick Streeck: Müssen lernen, mit Virus zu leben

Wir müssten jedoch lernen, dauerhaft mit dem Coronavirus zu leben. „Wenn man das verinnerlicht, dass dieses Virus wahrscheinlich heimisch wird, dass es uns wahrscheinlich unser Leben lang begleiten wird, dann ist das ein ganz anderer Umgang mit dem Virus, dann sind die Infektionszahlen gar nicht mehr so zentral, sondern viel wichtiger ist die Frage: Werden die Menschen krank?“

In dieser Woche meldete sich Streeck auf Twitter auch zur Debatte um den Impfstoff von Astrazeneca* zu Wort. *ruhr24 ist Teil des Ippen-Digital-Netzwerks

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