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Coronavirus: Lockdown-Studie gibt Drosten recht - nennt jedoch absurd hohe Todeszahlen

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Von: Naima Wolfsperger

Virologe Christian Drosten musste für seine Lockdown-Empfehlungen auch harsche Kritik einstecken. Auch von Kollegen. Eine neue Studie scheint ihm nun aber recht zu geben.

Berlin - Chef-Virologe der Berliner Charité, Chrisitian Drosten, erklärt in seinem Podcast mit dem NDR zur „Coronavirus-Update“ eine neue Studie, die die Folgen des Coronavrius-Pandemieverlaufs ohne Lockdown-Maßnahmen vorstellt. Demnach konnten allein in Deutschland bis Anfang Mai 570.000 Leben mit nicht-pharmazeutischen Maßnahmen - also Einschränkungen ohne medizinische Leistung - gerettet werden. Eine fast absurd hoch wirkende Zahl, die sogar die bisher weltweit gemeldeten Todeszahlen übersteigt. Aktuell geht von man 421.948 Todesfälle infolge von Corona aus (Johns-Hopkins-Universität, Stand 12. Juni, 14.50 Uhr). Drosten erklärt in seinem Podcast, warum es zu diesen hohen Todeszahlen wahrscheinlich nie gekommen wäre - auch ohne Lockdown. Und warum die Studie dennoch ernstzunehmen sei. 

Bundesweit wurden coronabedingt die Schulen geschlossen. Maßgeblich daran beteiligt: Eine Meinungsänderung von Virologe Christian Drosten - mit gravierenden Folgen.

Drostens NDR-Podcast „Coronavirus-Update“ über mögliche Todesfälle - 570.000 in Deutschland?

„There‘s no glroy in prevention“ - „Es gibt keinen Ruhm für Prävention“, hatte Christian Drosten* bereits in einer früheren Sendung des NDR-Podcasts gesagt, den Erfolg der Maßnahmen hatte er aber immer wieder betont und verteidigt. Nicht zuletzt gegen seinen Kollegen, den Virologen Hendrik Streeck. Dieser hatte zuletzt den Lockdown für unnötig erklärt. Die neue Studie des Imperial College London scheint Drostens Präventionsstrategie, in der er die Bundesregierungen beständig vor dem Infektionsgeschehen gewarnt und für starke Beschränkungen und Maßnahmen* plädiert hatte, nun aber recht zu geben.

Das Besondere an der Studie des Imperial College London: Sie betrachtet nicht das Infektionsgeschehen, sondern die Todeszahlen. Dieser Ansatz sei insofern sinnvoll, als man bei den Todesfällen den klarsten Nachweis habe. „Wenn jemand verstorben ist, dann ist das festzuhalten und zu vermelden - und das ist in allen Ländern gleich“, so Drosten. 

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Anders, als etwa bei der Nachweisrate der Coronavirus-Infektionen*. Die bestätigten Fälle unterschieden sich in den Ländern teils stark, „je nachdem, wie gut ausgestattet das Laborsystem in so einem Land ist“, erklärt der Virologe in seinem NDR-Podcast. Die Meldesysteme würden selbst in Europa ganz unterschiedlichen Standards unterliegen. „Es wird ganz unterschiedlich getestet“, sagt Drosten und verschärft sogar: „Die Vergleiche auf der Basis von Testen, die hinken total.“ Wohingegen die Meldung und Dokumentation von Todesfällen in den europäischen Ländern ungefähr gleich gehandhabt werde. 

Chef-Virologe der Berliner-Charité, Christian Drosten, ist ein Vertreter des Lockdowns. Eine neue Studie scheint ihm recht zu geben.
Chef-Virologe der Berliner-Charité, Christian Drosten, ist ein Vertreter des Lockdowns. Eine neue Studie scheint ihm recht zu geben. © AFP / TOBIAS SCHWARZ

Auf dieser Basis wurde in der Londoner Studie gerechnet. „Was dann wieder zugrunde liegt, ist wieder das normale Modell, das der Berechnung von Pandemien zugrunde liegt“, so Drosten, „nur rechnet man hier jetzt zurück.“ Damit gingen die Wissenschaftler der Frage nach „wie viel eigentlich an Verstorbenen aufgetreten wären, wenn man nicht nicht-pharmazeutische Maßnahmen* ergriffen hätte.“ Im Ergebnis stehen extrem hohe Zahlen: In elf europäischen Ländern wären demnach bis zum 4. Mai 2020 zwölf bis 15 Millionen Menschen mit dem Coronavirus* infiziert worden. Das sind 3,2 bis 4 Prozent der Summe der Bevölkerungen dieser Länder. Weitere 3,1 Millionen Menschen wären demnach allein in diesen elf Ländern gestorben. In Deutschland konnten nach den modellhaften Hochrechnungen der Studie 570.000 Menschen vor dem Tod bewahrt werden. Zum Vergleich: In Deutschland wurden im Vergleichszeitraum 7000 Todesfälle infolge einer Coronavirus-Infektion gemeldet. 

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Erstaunt ist Drosten von diesen immensen Todeszahlen der Modellrechnung offenbar nicht, dennoch schränkt er das Ergebnis ein. „Man muss sich ein bisschen überlegen, von welcher Seite man sich diese Studie anschaut“, so der Chef-Virologe der Berliner Charité. Die Berechnung für die verschiedenen Länder basiere auf der Grundlage eines freien und ungehinderten Verlaufs der Pandemie. 

Im Ergebnis stehen dann 570.000 Tote in Deutschland, 470.000 Todesfälle in Spanien, 500.000 in England, 720.000 in Frankreich und 670.000 Todesfälle mehr infolge der Coronavirus-Pandemie*. „Das sind aber natürlich hypothetische Werte, die sicherlich so in keinem dieser Länder aufgetreten wären“, sagt Drosten. „Denn man hätte ja gemerkt, dass eine Infektionsepidemie im Umlauf ist und auch ganz ohne spezifische politische Entscheidungen hätten die Leute sich viel vorsichtiger verhalten. Es wäre einfach Angst aufgekommen.“ Aufgrund dieser Angst hätten sich die Menschen selbst eingeschränkt, wären Zuhause geblieben - auch wenn niemand erklärt hätte, was geschehe. 

Die Zahlen der neuen Londoner Studie hängen auch von der Bevölkerungsstruktur ab. Das sei in die Studie mit eingerechnet worden. Hätte man die Fälle lediglich proportional zur Bevölkerungsstruktur berechnet, dann hätte sich die meisten Corona-Todeszahlen für Deutschland, als das bevölkerungsreichste Land in Europa, errechnet.

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Aber nicht nur in Anbetracht der Todeszahlen fühlt sich Christian Drosten von der Studie bestätigt: „Was aber auch interessant ist, sind andere Dinge, die aus dieser Studie abgeleitet werden können: Auf einem ganz diffizilen Rechenweg, basierend auf der Zahl der gemeldeten Verstorbenen, wird berechnet, wie denn jetzt die Schätzung der in der ersten Coronavirus*-Welle infizierten Populationsanteile ausfällt.“ Also die Infektionsraten der einzelnen Bevölkerungen. Die Frage, wie viel Prozent der Menschen in einem Land infiziert seien, könne damit recht sicher erschlossen werden - ganz unabhängig von den eigentlichen Testungen, die eine hohe Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle vermuten lassen. 

Die neue Londoner Studie habe auch kleinere europäische Länder verglichen. Dort sehe man große Schwankungen: In Österreich seien 0,7 Prozent der Bevölkerung infiziert, in  Norwegen 0,4, in Dänemark ein Prozent - in Belgien hingegen acht Prozent. „Das ist massiv! Und wir wissen ja, dass Belgien einen sehr großen Ausbruch hatte. Das Land hat aber eine sehr kleine Bevölkerung.“ Grund für die Infektionsrate sei der Zeitpunkt, zu dem Lockdown-Maßnahmen ergriffen wurden - ob früher oder später. Drosten bezieht sich dabei auch auf England. Dort hätten Experten berechnet, dass die Hälfte der gestorbenen Corona-Patienten* womöglich überlebt hätten, wäre der Lockdown eine Woche früher beschlossen worden. In Großbritannien sind bisher 41.364 Menschen an der Folge einer Infektion mit dem Coronavirus gestorben (Johns-Hopkins-Universität, Stand vom 12. Juni, 13.54 Uhr).

Video: Die Coronavirus-Fallzahlen in Deutschland

Nun könne man sagen: Bei kleineren Ländern liegen größere Schwankungen vor, schränkt Drosten selbst ein, nur um nachzulegen. Denn die Londoner Wissenschaftler haben auch die Coronavirus-Infektionsraten der größeren europäischen Länder verglichen. Der prozentuale Anteil der Infektionen in der Bevölkerung liegt laut Studie in Frankreich bei 3,4 Prozent, in England bei 5,1, in Italien bei 4,6 und in Spanien bei 5,5 Prozent. „Die Infektionsrate der großen Länder schwankt in einem Korridor zwischen vier und fünf Prozent. Das ist schon sehr ähnlich in den großen europäischen Ländern, die auch ähnlich strukturiert sind“, so Drosten. Das ähnlich strukturierte Deutschland stehe hier mit einer Infektionsrate von lediglich 0,8 Prozent viel besser da. „Deutschland ist das einzige große Land in Europa, das sich so richtig abhebt, dass über fünfmal weniger Infizierte aufweist“, so Drosten. 

Durch unabhängige Studien sei die Studie aus London kontrolliert. Deshalb könnte man sie als realistisch annehmen, auch wenn es eine Modellierungsstudie sei. 

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