IRA: Warum Europas Pläne nicht als Antwort auf die milliardenschweren US-Subventionen zum Klimaschutz taugen

Die deutsche Politik und die EU-Kommission suchen fieberhaft nach einer Antwort auf den Inflation Reduction Act (IRA). Mit milliarden-schweren Subventionen will US-Präsident Joe Biden die US-Wirtschaft verstärkt auf erneuerbare Energien ausrichten und so einen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten. Doch der aktuelle europäische Vorschlag greift zu kurz, schreibt Professor Stefan Kooths im Gastbeitrag.
Kiel - Der US-amerikanische „Inflation Reduction Act“ lässt hierzulande die Rufe nach einer europäischen Antwort immer lauter werden. Angesichts der bereits in der EU und ihren Mitgliedsstaaten bestehenden Ausgabenprogramme mit ähnlicher Ausrichtung ist indes unklar, wer hier auf wen antwortet. Im Ergebnis droht ein Interventionswettlauf, der beiden Wirtschaftsräumen schadet.
Im Februar hat die EU-Kommission mit dem „Green Deal Industrial Plan for the Net-Zero Age“ (GDIP) einen Vorschlag unterbreitet, der nichts weniger als eine Zeitwende in der Wirtschaftspolitik bedeuten würde – weg von marktwirtschaftlichen Lösungen und hin zu umfassender staatlicher Lenkung im Wirtschaftsgeschehen. Begründet wird dies damit, dass sich nur so die ambitionierten Dekarbonisierungsziele erreichen ließen. An zehn Punkten lässt sich zeigen, dass diese Argumentation nicht trägt:
1. Die Besonderheit der Dekarbonisierungspolitik liegt im globalen Koordinationsproblem, nicht in der ökonomischen Umsetzung.
Dekarbonisierung bedeutet, eine bislang freie Ressource (Nutzung der Atmosphäre für CO₂-Emissionen) zu bewirtschaften. Hierzu liegen mit den politisch gesetzten Zeitpfaden für die Obergrenze von CO₂-Emissionen nunmehr die Rahmenbedingungen vor. Der Umgang mit knappen Ressourcen ist der Wesenskern des Wirtschaftens. Hierzu gehört auch, dass sich Knappheiten im Zeitablauf verändern. Zwar ist das Ausmaß der mit der Dekarbonisierung verbundenen Anpassungserfordernisse außergewöhnlich groß, grundsätzlich stellt sich damit aber nicht die Frage nach einem neuen Allokationsverfahren für den Umgang mit knappen Ressourcen. Im Gegenteil spricht die Größe der Aufgabe vielmehr dafür, vorrangig auf diejenigen Mechanismen zu setzen, die dieser Aufgabe auch in der Vergangenheit am besten gerecht geworden sind. Die Besonderheit der Dekarbonisierung liegt vielmehr in der globalen Kollektivguteigenschaft der Erdatmosphäre, sodass sich das politische Ziel nur erreichen lässt, wenn die weltweiten Emissionen insgesamt (und nicht nur regional) als Restriktion des Wirtschaftens gelten.
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2. Wäre der Verzicht auf fossile Brennstoffe auch unabhängig von technologischen externen Effekten ökonomisch vorteilhaft, bedürfte es keiner wirtschaftspolitischen Intervention.
Fossile Brennstoffe haben sich nicht zufällig weltweit als wichtigster Energieträger durchgesetzt. Der Grund liegt darin, dass sie leicht zu gewinnen sind. Bleiben externe technologische Effekte außen vor, bieten sie daher einen Kostenvorteil. Wäre es anders, würden private Akteure weltweit auch ohne staatliche Hilfen auf nicht-fossile Energieträger ausweichen. Ein diesbezüglicher Wissensvorsprung staatlicher Stellen ist schwer zu begründen. Es ist schlicht nicht zu erwarten, dass staatliche Stellen die Kostenstrukturen der Energieformen besser einschätzen können als private Investoren, die – anders als Politiker und Bürokraten – mit ihrem eigenen Vermögen das Risiko der Investitions- und Technologieentscheidungen tragen. Hierbei geht es jeweils um die gesamten, mit einem Energieträger verbundenen Kosten. So sind zwar die variablen Kosten etwa bei Wind- und Solarenergie sehr gering, dafür erfordern sie jedoch einen ungleich höheren Kapitaleinsatz je Energieeinheit. Die gesamtwirtschaftliche Vorteilhaftigkeit bemisst sich nach den jeweils systemischen Durchschnittskosten, nicht nur nach den variablen Kosten eines Energieträgers.
Die Weltwirtschaft wird sich auch ohne staatliche Eingriffe dekarbonisieren, allerdings erst dann, wenn der Abbau fossiler Brennstoffe bei zunehmender Verknappung unwirtschaftlich würde. Gegenstand der Dekarbonisierungspolitik ist es indes, die Nutzung fossiler Brennstoffe bereits deutlich früher einzustellen, die Dekarbonisierung also zeitlich vorzuziehen und fossile Brennstoffe in erheblichem Umfang im Boden zu belassen. Die Wirtschaftspolitik sollte nicht davon ausgehen, mit der Dekarbonisierung eine doppelte Dividende einfahren zu können (sowohl weniger CO₂-Emissionen als auch günstigere Energieversorgung). Damit geht einher, dass die Dekarbonisierung gesamtwirtschaftlich eher wachstumsdämpfend wirkt, weil von den Dekarbonisierungsinvestitionen (sowohl mit Blick auf den physischen Kapitalstock als auch für Forschung und Entwicklung) keine additiven Kapazitätseffekte ausgehen (Umbau statt Aufbau des Produktionspotenzials).
So ist auch bei den bisherigen Ausbauzielen für Erneuerbare Energien eine erhebliche Zunahme der Energieeffizienz erforderlich. Diese wiederum erfordert Innovationsleistungen, die an anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung stehen (und die dort bislang den technischen Fortschritt und somit den Wachstumsprozess mitgetragen haben). Zwar wachsen die dekarbonisierungsbefassten Bereiche naturgemäß bei verstärkter Dekarbonisierung, dies geht aber mit dem Abzug von Produktionsfaktoren von anderen Bereichen einher, die dementsprechend schwächer wachsen oder schrumpfen müssen.
3. In der Dekarbonisierungspolitik stehen im Wesentlichen zwei Herangehensweisen zur Wahl.
Soll der Einsatz einer Ressource (hier: CO₂-Emissionen) verringert werden, muss sich diese gegenüber ihren Alternativen verteuern, um so entsprechende Reallokationsanreize zu senden (Anstieg des Relativpreises). Dies kann auf direktem Wege dadurch geschehen, dass die knapper werdende Ressource entsprechend ihrer Verfügbarkeit bepreist wird (über gehandelte CO₂-Emissionszertifikate oder CO₂-Steuern), oder indirekt dadurch, dass CO₂-freie Produktionsverfahren subventioniert werden. Mit dem „EU Emissions Trading System“ (EU ETS) hat die Europäische Union zunächst den direkten Weg für ausgewählte Bereiche beschritten. Mit dem „Green Deal Industrial Plan for the Net-Zero Age“ (GDIP) schlägt sie nun zusätzlich den indirekten (industriepolitischen) Weg ein.
Beide Instrumente sind nicht unabhängig voneinander. Je stärker CO₂-Emissionen durch Subventionen für emissionsfreie Produktionsverfahren gesenkt werden, desto niedriger fällt der CO₂-Preis aus, der sich sonst (durch Ausdehnung der Bepreisung auf sämtliche Emissionsquellen) herausbilden würde. Insofern schwächt das eine Instrument das andere ab. Dies gilt auch für die mit den beiden Instrumenten jeweils verbundenen fiskalischen Effekte. Die CO₂-Bepreisung führt zu Staatseinnahmen, mit denen sich über einen Rücktransfer an die privaten Haushalte Belastungen abfedern lassen. Werden diese hingegen, wie im GDIP-Vorschlag angedeutet, auch zur Finanzierung von Subventionen herangezogen, fehlen diese Mittel und verwässern so den sonst möglichen Ausgleich. Demgegenüber verursacht die industriepolitische Subventionslösung höhere Staatsausgaben, die höhere Abgaben oder Umschichtungen im Haushalt erfordern.
4. Der Interventionsgrad und die Wissensproblematik des industriepolitischen Ansatzes sind ungleich höher als ein preisbasierter Ansatz zur Dekarbonisierung.
Das Instrument der CO₂-Preise setzt unmittelbar an einer klar identifizierten und eng umrissenen Stelle im Wirtschaftsgefüge an. Es ist daher einfach zu administrieren und erfordert seitens der Wirtschaftspolitik keine tieferen Einblicke in Produktionsabläufe, branchenweise Kostenstrukturen und Effizienzpotenziale. Ein über handelbare Zertifikate gebildeter CO₂-Preis passt sich zudem selbst an sich ändernde Verhältnisse an und zieht in allen übrigen Wirtschaftsbereichen entsprechende Relativpreisänderungen nach sich. Ein industriepolitischer Ansatz, der alternative Produktionsverfahren fördert, steht hingegen vor dem Problem, dass diese Alternativen im arbeitsteiligen Wirtschaftsgefüge komplex sind und sich im Zuge des kaum vorhersehbaren technischen Fortschritts permanent ändern. Statt sich mit dem preisbasierten Ansatz mit der Emissionsmenge auf eine Größe von vielen (1 von n) zu konzentrieren, steht der subventionsbasierte Ansatz vor der Aufgabe, praktisch in allen übrigen Bereichen ökonomischer Aktivität (n-1) eingreifen zu müssen.
Hinzu kommen politökonomische Probleme, insbesondere die Anfälligkeit für Rent-Seeking, bei dem die privaten Akteure ihren Wissensvorsprung vor der bürokratischen politischen Ebene ausspielen. Die Bewältigung der sozioökonomischen Komplexität mit Hilfe von Preissignalen ist der entscheidende Grund für die Vorteilhaftigkeit einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Je weitgreifender sich eine Änderung im Wirtschaftsgefüge vollzieht, desto größer ist der Vorsprung an Koordinationseffizienz der Marktwirtschaft. Energie ist ein pervasives Gut, es durchzieht praktisch alle ökonomischen Prozesse. Umso weniger Erfolg verspricht eine Politik, die die wirtschaftlichen Folgen der Dekarbonisierung durch industriepolitische Eingriffe zu beherrschen trachtet.
5. Transformative Industriepolitik ist kein Ersatz für eine globale Koordination der Emissionspfade, sondern erschwert diese eher.
Regionale CO₂-Preise müssen außenwirtschaftlich so eingebettet sein, dass die Verteuerung von CO₂-Emissionen im Binnenmarkt nicht bloß zu einer Verlagerung der Produktion in andere Weltregionen führt, in denen CO₂-Emissionen nicht bepreist werden (Grenzausgleich, Klima-Club). Vor derselben Problematik steht aber auch eine Politik, die CO₂-Emissionen über industriepolitische Subventionen senken will. Denn der Erfolg der Dekarbonisierung hängt davon ab, dass sie weltweit erfolgt. Eine internationale Verständigung über vergleichbare industriepolitische Eingriffe dürfte aber nochmals weitaus schwerer fallen als eine internationale Übereinkunft über einen globalen CO₂-Preis.
6. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Wirtschaftsraums lässt sich über produktionsbegleitende Subventionen nicht insgesamt verbessern.
Der industriepolitische Ansatz der Dekarbonisierung fokussiert sich vor allem auf die energieintensiven Wirtschaftsbereiche, indem deren internationale Wettbewerbsfähigkeit über Subventionen erhalten bleiben soll. Damit einhergehen aber notwendigerweise Belastungen für die übrigen Wirtschaftsbereiche, sei es durch höhere Abgaben oder den Wegfall sonst möglicher anderer standortstärkender Maßnahmen. Es kommt somit zu einem Crowding-out mit Blick auf die Standortqualität. Dem Wirtschaftsraum insgesamt ist damit nicht geholfen. Im Gegenteil geht eine stark interventionistisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik mit erheblichen Zusatzlasten einher (Bürokratieaufwand, Excess burden der Besteuerung).
Subventionen können sinnvoll sein, wenn es um die Grundlagenforschung geht, ohne dass sich dafür unmittelbar industrielle Anwendungen ergeben. Gelingt dies mit Blick auf neuartige Energiequellen, die den Kostenkeil zwischen fossilen und emissionsfreien Energien verringern, würde darüber tendenziell auch das globale Koordinationsproblem entschärft, weil sich neues Wissen global skalieren lässt. Dann besteht der Zweck der Subvention aber gerade nicht in einem Wissensvorsprung gegenüber der übrigen Welt, sondern darin, dieses neue Wissen möglichst schnell mit der übrigen Welt zu teilen, damit es global zum Einsatz kommen kann, um Emissionen zu senken.
7. Die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik muss in sich stimmig sein und sollte nicht punktuell auf Interventionen in der übrigen Welt reagieren.
Derzeit wird der US-amerikanische „Inflation Reduction Act“ (IRA) vermehrt zum Anlass genommen, die Wirtschaftspolitik der EU neu auszurichten. Dies ist sowohl im konkreten Fall als auch grundsätzlich nicht überzeugend. So beläuft sich der IRA jährlich auf etwa zwei Promille der US-amerikanischen Wirtschaftsleistung bei einer Laufzeit von zehn Jahren. Die industriepolitischen Teile des NextGenerationEU-Programms haben eine ähnliche Größenordnung (die EU-Kommission führt in ihrem GDIP-Vorschlag noch weitere einschlägige EU-Programme an). Von daher ließe sich auch fragen, ob nicht die USA auf die EU reagieren, statt der EU-Seite eine Antwort auf die USA nahezulegen. Auch für die USA gilt, dass sie mit der Förderung bestimmter Industrien andere Wirtschaftsbereiche belasten und so den Standort nicht insgesamt wettbewerbsfähiger machen.
Gerade weil die Standortqualität immer ein Bündel vieler Faktoren ist, sollte das Ziel der Wirtschaftspolitik ein insgesamt attraktiver Mix sein, der die wirtschaftspolitische Grundausrichtung widerspiegelt. Will die EU an einer marktwirtschaftlichen Ordnung festhalten, sollte sie nicht deshalb marktwirtschaftlich problematischen Eingriffen vornehmen, weil diese anderswo in der Welt vorkommen. Würden in dieser Weise fortwährend auswärtige Interventionen hierzulande repliziert, würde nicht die übrige Welt marktwirtschaftlicher, sondern die heimische Wirtschaftspolitik zunehmend interventionistischer. Dies wäre auch kein Zeichen von Systemwettbewerb, denn dieser besteht darin, auf jeweils unterschiedliche Prinzipien zu setzen, von deren Vorteilhaftigkeit im Grundsatz ausgegangen wird.
8. Wirtschaftsstrukturen sollten den Standortbedingungen folgen, nicht umgekehrt.
Ändert die Politik maßgebliche Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Aktivität, müssen sich die Wirtschaftsstrukturen daran anpassen. Diese reflektieren die bisherigen Standortbedingungen und können nicht unabhängig von diesen fortbestehen. Eine Neuausrichtung der Energiepolitik, die das Energieangebot tendenziell verknappt, passt daher nicht zu einer Industriepolitik, die über Subventionen an energieintensiver Produktion festhält oder gar die Fertigung zusätzlicher energieintensive Güter (z. B. Batteriezellen) anziehen will. In einem prosperierenden Wirtschaftsraum muss jede ökonomische Aktivität die Kosten am Markt verdienen, die sie über die Inanspruchnahme von Ressourcen verursacht. Energie unterscheidet sich hierbei nicht von anderen Produktionsfaktoren. Im marktwirtschaftlichen Prozess wird sich dann ein Preisgefüge einstellen, über das die Konsumenteninteressen mit den Produktionsmöglichkeiten abgestimmt werden. Eine Quersubvention zwischen den Wirtschaftsbereichen stört diesen für den Wohlstand unverzichtbaren Allokationsmechanismus.
9. Mit dem GDIP geht ein Kurswechsel in der Binnenmarktpolitik einher, der auch fiskalisch auszustrahlen droht.
Neben offenen Märkten macht die Beihilfekontrolle den zweiten Pfeiler des Binnenmarktes aus. Diese war bislang darauf ausgerichtet, nationale Subventionen einzudämmen, um einen dysfunktionalen Subventionswettlauf innerhalb des Binnenmarktes zu unterbinden. Der GDIP ändert mit Blick auf die transformative Industriepolitik diese Ausrichtung und stellt nicht länger auf die Eindämmung, sondern auf die Einheitlichkeit der Subventionen zur Dekarbonisierung ab. Weil die Fähigkeit zur Subventionsvergabe jeweils von der fiskalischen Stärke der Mitgliedsstaaten abhängt, kann damit ein Prozess hin zu mehr fiskalischer Zentralisierung einhergehen. Denn die fiskalisch weniger potenten Mitgliedsstaaten dürften mit Blick auf unterschiedliche Subventionshöhen geltend machen, einem unfairen Wettbewerb innerhalb der EU ausgesetzt zu sein, der durch den Binnenmarkt ja gerade unterbunden werden sollte. Dies leistet Bestrebungen Vorschub, die Subventionen auf EU-Ebene vorzunehmen und diese entweder defizitwirksam zu finanzieren oder als neue Transferelemente auszugestalten.
10. Unabhängige Ziele sollten für sich stehen und nicht miteinander vermengt werden.
Der GDIP formuliert neben dem Dekarbonisierungsziel weitere Ziele, etwa die Resilienz von dekarbonisierungsrelevanten Wertschöpfungsketten oder dekarbonisierungsbezogene Qualifikationsprofile und Erwerbsquoten. Dies macht den ohnehin schon komplexen Ansatz nochmals schwieriger und undurchsichtiger. Es ist konzeptionell immer problematisch, verschiedene Politikziele über ein Instrument anzusteuern. So stellt die Resilienz von Wertschöpfungsketten ein generelles wirtschaftspolitisches Ziel dar, unabhängig davon, ob die jeweilige Aktivität im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung steht oder der zuverlässigen Verfügbarkeit anderer Güter (z. B. Medikamente) dient. Daher bietet es sich an, Resilienz als eigenständiges Ziel (mit allgemeinen Kriterien und Instrumenten) zu diskutieren und nicht mit anderen Zielen zu vermengen. Mit Blick auf das mit der Abhängigkeit von ausländischen Zulieferungen verbundene Erpressungspotenzial sind dekarbonisierungsbezogene Wertschöpfungsketten sogar eher weniger anfällig, sollen diese doch der Bereitstellung eines globalen Kollektivgutes dienen. Würde gleichwohl über diesen Hebel geopolitischer Druck ausgeübt, deutete dies eher darauf hin, dass über das eigentlich zu lösende internationale Koordinationsproblem in der Dekarbonisierungspolitik keine belastbare Lösung gefunden und damit eine notwendige Erfolgsbedingung noch nicht erfüllt wäre.
Die arbeitsmarktbezogenen Vorschläge im GDIP greifen in Bereiche ein, die typischerweise zum Aufgabengebiet der Unternehmen selbst gehören und von diesen auch aus eigenem Interesse wahrgenommen werden. So würde etwa ein verstärkter Einsatz von Wärmepumpen die mit der Produktion und Installation dieser Geräte befassten Unternehmen unmittelbar dazu anreizen, entsprechendes Personal auszubilden. Ein Ausgreifen der Industriepolitik auf diesen Bereich erscheint hingegen vor dem Hintergrund der Wissens- und Anreizproblematik hochproblematisch. Die hohe Produktivität in den GDIP-relevanten Bereichen ist maßgeblich der überdurchschnittlichen Kapitalintensität geschuldet und kann schon aus diesem Grund keine bevorzugte Behandlung bei der Arbeitsmarktförderung beanspruchen. Auch mit Blick auf soziografische Ziele (z. B. Frauenerwerbstätigkeit in MINT-Berufen) bieten sich allgemeine Förderinstrumente an, unabhängig davon, in welchen Branchen die Arbeitskräfte tatsächlich tätig werden wollen.
Fazit
Die transformative Industriepolitik droht eher unsere Wirtschaftsordnung zu deformieren, als bei der Transformation hilfreich zu sein. Im Gegenteil steht eine umfassend interventionistische Industriepolitik der Dekarbonisierung im Wege, weil sie das Ziel mit einem unnötig teuren und bürokratisch unbeherrschbaren Instrument ansteuert. Je teurer die Dekarbonisierung wird, desto eher verliert sie den Rückhalt in der Bevölkerung.
Zur Person: Prof. Stefan Kooths ist Vizepräsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft und Direktor des dortigen Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum. Er lehrt Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School in Berlin/Hamburg und ist Vorsitzender der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.
Der Beitrag ist eine geringfügig überarbeitete Fassung der schriftlichen Stellungnahme, die der Autor für eine öffentliche Anhörung im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages am 10. Mai 2023 verfasst hat. Die Aufzeichnung der mündlichen Anhörung finden Sie hier.