Nord-Stream-Sabotage - Die Hintergründe, die Folgen: Was bisher bekannt ist
Der Angriff auf die Nord-Stream-Pipelines zeigt die Verwundbarkeit der europäischen Infrastruktur. Doch wer steckt dahinter und was sind die möglichen Folgen? Ein Überblick.
Bornholm – Aus vier Lecks in den beiden Nord-Stream-Pipelines strömen derzeit große Mengen Gas. Dass es sich dabei um einen Sabotageakt handelt, wird mittlerweile kaum mehr infrage gestellt. Nichtsdestotrotz bleiben neben der Schuldfrage noch weitere Rätsel offen. Wer würde von einem solchen Anschlag profitieren? Welche Folgen hat der Gasaustritt für die Umwelt? Und was bedeutet das für die Energieinfrastruktur in Europa in Zukunft? Die wichtigsten Antworten von Experten im Überblick.
Wie wurden die Nord-Stream-Pipelines beschädigt?
Kurz nachdem die Lecks in den Nord-Stream-Röhren gemeldet wurden, wurde auch bekannt, dass es zuvor mehrere Explosionen in dieser Gegend gegeben hat. Sprengen unter Wasser ist kein Hexenwerk, vor allem wenn es – wie in der Ostsee – nicht um große Tiefen geht. Militärtaucher aller Nationen sind darin geübt. So werden Seeminen eines möglichen Gegners in der Regel unter Wasser kontrolliert gesprengt, nicht entschärft. Auch zivile Sprengschulen bieten eine solche Ausbildung an, ebenso Zivilschutzbehörden wie im Falle Deutschlands das Technische Hilfswerk (THW).
Prinzipiell ist aber bei einer Pipeline mindestens noch ein zweites Verfahren zur Zerstörung denkbar, sagen Technikexperten. Die Röhre wird mit einem „Molch“ gewartet, einem ferngesteuerten Reinigungsroboter, der mit Sprengstoff bestückt werden kann, sofern Täter Zugang zu dem System haben. Zudem besitzt Russland eine riesige U-Boot-Flotte und Unterwasserdrohnen. Auch diese wären in der Lage, einen solchen Schaden anzurichten.
Wer kommt als Täter infrage?
Grundsätzlich ist es möglich, dass Gegner Russlands hinter den Anschlägen stecken könnte, und so den Druck auf den Kreml weiter erhöhen wollen. Allerdings verweisen Beobachter bei der Suche nach den möglichen Hinterleuten eher auf den Kreml. Möglicherweise geht der russische Präsident Wladimir Putin nicht mehr davon aus, dass Europa auf absehbare Zeit wieder Gas in Russland kauft und muss daher auch keine Rücksicht mehr auf die Pipeline nehmen. Außerdem könnte der ehemalige KGB-Agent mit der Sabotage den Westen daran erinnern, wie verletzlich die Infrastruktur in vielen Ländern ist. So verlaufen wichtige internationale Kommunikationsrouten wie etwa Internet- und Telefonverbindungen über Seekabel. Und die sind gegen mögliche Anschläge kaum zu schützen.
Gibt es Spuren zu den Tätern?
Die Ostsee gehört zu den am besten überwachten Seegebieten überhaupt – zumal nach der Eskalation der Spannungen mit Russland wegen des Ukraine-Krieges. Alle Anrainer beobachten den Schiffs- und Flugverkehr mit Sensoren, und es gibt dabei auf deutscher Seite hoch entwickelte Fähigkeiten. So werden Bewegungen von Fahrzeugen im Wasser verfolgt, indem die akustische Signatur aufgenommen und mit einer Datenbank abgeglichen wird. Die Marine erstellt aus all diesen Informationen ein „Unterwasserlagebild“, das allerdings bei der Beobachtung gegnerischer U-Boote auch an Grenzen stößt. Zur Beweislage gehört auch das Schadensbild an der Pipeline. Weil das austretende Gas aber zunächst erheblich Blasen schlägt, ist eine genauere Analyse erst später möglich – Dänemarks Verteidigungsministerium geht von ein bis zwei Wochen aus, bis die Lecks in etwa 80 Metern Tiefe untersucht werden können.
Mehrere anonyme Quellen haben laut Handelsblatt darauf hingewiesen, dass Anfang der Woche russische Militärboote und U-Boote nahe der Explosionsstelle befunden haben. Überprüft werden konnte diese Angabe jedoch bisher nicht. Eine weitere anonyme Quelle des dänischen Geheimdienstes erklärte jedoch, dass dies auch nicht ungewöhnlich wäre. Es gäbe keine Beweise, dass diese Boote in Zusammenhang mit den Anschlägen standen.
Wer ist für den Schutz der deutschen Infrastruktur zuständig?
„Die Bundespolizei ist mit ihren Schiffen 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche auf Nord- und Ostsee unterwegs“, sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). In den Küstenbereichen und an Land seien die Länder für die Gefahrenabwehr verantwortlich – „im Maritimen Sicherheitszentrum in Cuxhaven laufen die Fäden zusammen“.
Wie soll die Infrastruktur künftig geschützt werden?
„Wir sehen erneut, wie stark äußere und innere Sicherheit zusammenhängen“, sagt Faeser. Man müsse sich auf Szenarien einstellen, „die bis vor kurzem kaum denkbar waren“. In der Koalition finden manche Innen-Experten, dass das Benennen von Problemen hier nicht ausreicht. Im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP formuliert: „Den physischen Schutz kritischer Infrastrukturen bündeln wir in einem KRITIS-Dachgesetz. Die Konzeption „Zivile Verteidigung“ richten wir strategisch neu aus.“ Im Fokus steht nun auch der Schutz von Unterseekabeln für Telekommunikation und Strom, aber auch LNG-Terminals und Öl- und Gasplattformen.
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht erklärt am Mittwoch: „Der mutmaßliche Sabotageakt an den Ostsee-Pipelines führt uns erneut vor Augen, dass wir auf kritische Infrastruktur angewiesen sind – auch unter Wasser. Die Umstände dieses beunruhigenden Ereignisses müssen nun schnell geklärt und die Verantwortlichen identifiziert werden.“ Die Marine werde sich bei der Aufklärung einbringen.
Wie gefährlich sind die Pipeline-Lecks für die Umwelt?
Der Einfluss der Lecks in den Nord-Stream-Gaspipelines auf den Klimawandel ist laut dem Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) vergleichsweise gering. „Das Klimageschehen wird dadurch nicht verändert“, sagte IOW-Forscher Oliver Schmale am Mittwoch in Rostock. Nichtsdestotrotz entspreche die Gesamtmenge von 500 Millionen Kubikmetern Erdgas, die nach Annahmen verschiedener Medien aus den Leitungen entweichen kann, rund 18 Prozent des Jahresausstoßes an Methan in Deutschland im Jahr 2021. Im globalen Vergleich sind es Schmale zufolge jedoch lediglich 0,06 Prozent. Das aus der Pipeline entweichende Erdgas besteht den Angaben nach zu rund 97 Prozent aus Methan.
Der Wissenschaftler will den Schaden, der vom Treibhausgas Methan ausgelöst wird, jedoch nicht kleinreden. Der Treibhausgaseffekt sei bei Methan rund 25-mal stärker als bei CO2. Durch die Anreicherung der Gase in der Atmosphäre wird von der Erde abgestrahlte Energie – die eigentlich ins All entweichen würde – wieder zurückgeworfen. Rein wissenschaftlich betrachtet würde es Schmale zufolge also Sinn machen, das entweichende Erdgas über der Wasseroberfläche zu entzünden und damit seine Umwandlung zu CO2 auszulösen. Ob dies in der Praxis gangbar ist, könne er jedoch nicht einschätzen. (ph/dpa)