Gewalt in Paris: Warum eskaliert es in Frankreich immer wieder – und in Deutschland nicht?
Frankreich und Deutschland befinden sich im Streik. Das sieht traditionell unterschiedlich aus. Warum? Das hat einen profanen Grund – und einen überraschenden, sagt ein Experte für Konflikte.
Paris – In Paris wurden in der Nacht zu Dienstag Medienangaben zufolge 142 Menschen festgenommen. Elf Polizisten seien verletzt worden, berichtete der Sender BFMTV unter Berufung auf Polizeiquellen. Auch in anderen Städten wie Saint-Étienne, Straßburg, Amiens, Caen und Toulouse kam es laut Franceinfo zu spontanen Demonstrationen. Der Grund: Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron hat das Alter für den regulären Beginn der Rente schrittweise von 62 auf 64 Jahre angehoben. Am Montagabend wurde die Reform verabschiedet.
In Deutschland regt sich ebenfalls Unmut. Hier fordern die Gewerkschaft Verdi und der Beamtenbund dbb für die 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen 10,5 Prozent mehr Einkommen, mindestens aber 500 Euro pro Monat. Grund sind die Inflation und die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Einigen konnte man sich mit den Arbeitgebern bislang nicht. Bis zur dritten Verhandlungsrunde Ende März wird weiter gestreikt.
In Frankreich wird fünfzehnmal häufiger gestreikt als in Deutschland
Die konkreten Anlässe in den beiden Ländern mögen verschieden sein, doch die Motive sind ähnlich: Es ist die Angst vor dem sozialen Abstieg, die immer mehr Menschen umtreibt. Doch während in Frankreich regelmäßig zu Gewaltausbrüchen kommt, verlaufen Streiks in Deutschland friedlich.
Zahlen unterstreichen die Streiklust der Franzosen beziehungsweise die Streikfaulheit der Deutschen – je nachdem, wie man es liest. Auf 1.000 französische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommen im Schnitt 123 Streiktage pro Jahr. In Deutschland sind es sieben Tage. Das hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln in einer Untersuchung für die Jahre 2007 bis 2016 herausgefunden. Warum ist das so?

Johannes Maria Becker ist Politikwissenschaftler. Er hat das Zentrum für Konfliktforschung an der Universität Marburg mit aufgebaut. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist Frankreich. Becker hat drei Jahre in Paris gearbeitet und hat seit 45 Jahren einen zweiten Wohnsitz in Frankreich. Seine Analyse: „In Frankreich sind Proteste weniger vorhersehbar als bei uns. Das liegt unter anderem an den Gewerkschaften, die viel radikaler agieren. Es gibt dort politische Richtungsgewerkschaften, zum Beispiel eine sozialdemokratisch orientierte, eine kommunistisch orientierte und sogar eine zuweilen trotzkistisch maoistisch agierende Gewerkschaft. In Deutschland hingegen haben wir eine sozialdemokratisch orientierte Einheitsgewerkschaft.“
Frankreich-Experte: „Kollektives Bewusstsein für Unrecht“
Neben der institutionellen Erklärung gibt es auch eine kulturelle Begründung: die Volksseele. „Das französische Volk hat – neben der Kultivierung der obsiegenden Revolutionen – ein kollektives Bewusstsein für Unrecht. Es läuft etwas schief? Dann macht man eher die zentrale Obrigkeit verantwortlich und geht auf die Straße – und zwar alle, nicht nur diejenigen, die direkt betroffen sind. Deutsche suchen die Schuld eher bei sich, sie zweifeln die Makrostrukturen nicht an.“
Becker erzählt eine Geschichte, die ihm diese Erkenntnis konkret vor Augen führte. „Als 2005 Hartz IV eingeführt wurde, sollte es hier in Marburg eine Demonstration geben. Man rechnete damit, dass von den etwa 500 erwerbslosen Lehrern in der Region viele kommen würden, denn sie mussten durch die Reform massive Verluste hinnehmen. Letztlich sind sechs gekommen.“
Eine Zahl, die in Frankreich undenkbar wäre, sagt Becker. Die Streiklust hänge auch mit einem grundlegenden Misstrauen in den Staat zusammen. „Die Franzosen sagen: Wenn Macron meint, er müsse mehr Geld einnehmen, dann soll er die Superreichen stärker besteuern oder Steuerhinterziehung effektiver bekämpfen. Mit dieser Einstellung gilt man in Deutschland als Neider“, so Becker.
Streikrecht in Deutschland schärfer als in Frankreich
Dass die Streikkultur in Frankreich anders ist, hat auch historische Gründe. Erst wurde das Streikrecht eingeführt, danach kamen die Gewerkschaften. Protestieren kommt vor Verhandeln – das hat in Frankreich eine lange Tradition. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht das Streikrecht sogar in der Präambel der Verfassung. Grundsätzlich darf in Frankreich jeder streiken – auch Beamte. In Deutschland ist Staatsbediensteten dieses Recht untersagt.
Was als Streik gilt, ist ebenfalls unterschiedlich definiert. Wenn in Frankreich mindestens zwei Beschäftigte ihre Arbeit niederlegen, gilt das als Streik. In Deutschland dürfen nur Gewerkschaften zum Streik aufrufen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: Streiks sind nur zulässig, wenn es um Forderungen geht, die sich im Rahmen des Tarifvertrags regeln lassen. Es muss also beispielsweise um das Gehalt, die Arbeitsbedingungen oder den Kündigungsschutz gehen.
Ein Ende de Proteste ist in Frankreich nicht abzusehen. Das hat, sagt Konfliktforscher Becker, auch mit der Historie des Landes zu tun: „In Frankreich gibt es eine Protestkultur, die auf Siege zurückschauen kann. Man feiert dort Revolutionen. Der Nationalfeiertag ist der 14. Juli. Das ist in Deutschland undenkbar.“