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Wagenknecht-Manifest: Ist die Kriegsberichterstattung der Medien zu einseitig?

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Von: Max Müller

Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht stehen in Kön in der Nähe des Rheins.
Linkenpolitikerin Sarah Wagenknecht und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer planen eine Kundgebung in Berlin. © Rolf Vennenbernd/dpa

Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und 600.000 Unterstützer fordern: Schluss mit Waffenlieferungen. Ist das viel für eine Online-Petition? Wir haben bei der Plattform nachgefragt – und eine mysteriöse Antwort erhalten.

Köln – Seit einem Jahr wird in der Ukraine gekämpft. Am 24. Februar überfiel Russland völkerrechtswidrig die Ukraine. Bis zu diesem Punkt sind sich die meisten Beobachter einig. Ab hier beginnt das argumentatorische Minenfeld. Die Ukraine brauche mehr Waffen, dieser Krieg sei auch unser Krieg, und Russland müsse um jeden Preis besiegt werden, sagen die einen. Noch mehr Waffen würden den Ausgang nur verzögern und mehr Leid verursachen, man solle jetzt verhandeln, sagen die anderen.

Die Anderen, das ist eine Fraktion, an deren nummerische Größe man sich seit dem 10. Februar tagesaktuell annähern kann. An diesem Tag veröffentlichen Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und Frauenrechts-Aktivistin Alice Schwarzer ihr „Manifest für Frieden“. Eine Petition, die knapp 600.000 Menschen unterzeichnet haben (Stand: 22. Februar). Eine beeindruckende Zahl?

Ja und nein. Die erfolgreichste Petition aller Zeiten ist es nicht. Laut „change.org“ liegt der aktuelle Rekord bei 5,3 Millionen Unterschriften. Das Thema: die umstrittene EU-Urheberrechtsreform („Artikel 13“). Auf Platz zwei steht eine Petition, die mit 1,6 Millionen Unterstützern die Haushaltskürzungen der Hebammen verhindern wollte. Wie viele Unterschriften eine Petition im Durchschnitt bekommt, wie im Vergleich dazu die Schlagkraft der Wagenknecht/Schwarzer-Petition einzuschätzen ist und wie viele Menschen anonym unterschrieben haben – alles spannende Fragen, die „change.org“ trotz zweifacher Nachfrage nicht beantwortet.

„Manifest für Frieden“: Großes Medienecho

So bleibt nur die Spekulation. Die knapp 600.000 Unterschriften wirken angesichts der Tragweite des Anliegens – und im Vergleich zu den eher nischigen Top-Petitionen – ausbaufähig. Wer regelmäßig Nachrichten liest, Talkshows einschaltet oder Parlamentsdebatten verfolgt, dürfte sich dennoch wundern. Die Position von Schwarzer und Wagenknecht (Waffenlieferungen stoppen, mit Putin verhandeln) ist nicht gerade anschlussfähig im Mainstream. Das Medienecho auf die Petition bestätigt das. Der Spiegel kürte die beiden Frauen zu den „Verliererinnen des Tages“. In vielen weiteren Medien – von Taz bis Bild – hagelte es Kritik. Der Vorwurf: Die Position sei naiv, unrealistisch und lässt offen, wie das offenkundig nicht verhandlungsbereite Russland zu Verhandlungen bewegt werden solle. Obendrein verwehre man der Ukraine das Recht auf Souveränität und Selbstbestimmung.

Es sind auch andere Töne zu vernehmen, mitunter sogar in denselben Medien. Und es sind nicht nur Schwarzer und Wagenknecht, die das Narrativ vertreten. 69 mehr oder weniger bekannte Personen haben das Manifest als erstes unterschrieben, unter anderem CSU-Politiker Peter Gauweiler, Musiker Reinhard Mey und Grünen-Politikerin Antje Vollmer. Philosoph Jürgen Habermas veröffentlichte in der Süddeutschen Zeitung einen Gastbeitrag unter dem Titel „Ein Plädoyer für Verhandlungen“. Ähnlich argumentiert Heribert Prantl, langjähriges Mitglied der SZ-Chefredaktion.

Einseitige Berichterstattung: Hatten Precht und Welzer doch recht?

Alles Indizien, dass der Meinungskorridor in der deutschen Öffentlichkeit doch nicht so eng ist? Immerhin war jener „Befund“ für Richard David Precht und Harald Welzer Anlass genug, um in einem Buch den (vermeintlichen?) Herdentrieb der deutschen Medien anzuprangern. Die Petition dürfte ihnen Auftrieb verleihen, immerhin stehen im Manifest ziemlich genau jene Forderungen, die Precht und Welzer in den deutschen Leitmedien vermissten.

Marcus Maurer beobachtet das sehr genau. Er forscht an der Universität Mainz zu politischer Kommunikation und hat in einer Studie untersucht, wie deutsche Medien in den ersten drei Monaten nach Kriegsbeginn berichtet haben. Das Ergebnis: In einigen Punkten haben Welzer und Precht unrecht oder zu sehr zugespitzt, zum Beispiel wurde die Regierung, anders als im Buch dargestellt, durchaus hart kritisiert. Einen wesentlichen Punkt kann Maurer aber wissenschaftlich bestätigen: „In den deutschen Leitmedien gab es ein deutliches Übergewicht zugunsten von Waffenlieferungen.“ Auch der Ruf nach schweren Waffen (Ausnahme: Spiegel) war überdurchschnittlich oft zu lesen.

Besteht hier ein Zusammenhang? Eine verzerrte Diskussion auf der einen Seite und ein Teil der Bevölkerung, der sich nicht gesehen fühlt? „Regelmäßige Umfragen zeigen, dass die Mehrheit die Ukraine unterstützen will“, sagt Maurer. „Es gibt aber auch eine gar nicht so kleine Gegenfraktion, die öffentlich unterrepräsentiert ist.“ Warum das so ist, wurde in Maurers Studie nicht erhoben. „Ich kann nur spekulieren: Die Diskussion wird bei großen Themen – Krieg, Corona – moralisch geführt, nicht auf Basis von Argumenten. In der Wahrnehmung vieler Menschen war das früher anders. Da ging es mehr um die Sache und nicht darum, auch der ‚richtigen Seite‘ zu stehen. Belegt ist das aber nicht.“

Petitions-Plattform „change.org“ reagiert merkwürdig

Am Samstag wird offensichtlich, wie real die Zahl 600.000 tatsächlich ist. Dann ist nämlich eine Kundgebung in Berlin geplant, die vorab heftig diskutiert wird. Dabei geht es vor allem um die Frage, wer dort aufläuft. Es ist die fehlende Abgrenzung zum rechten Rand, die immer wieder gefordert wird. „Auf unserer Kundgebung ist jeder willkommen, der ehrlichen Herzens für Frieden und für Verhandlungen demonstrieren möchte. Rechtsextreme Flaggen oder Symbole dagegen haben auf ihr nichts zu suchen und werden nicht geduldet. Mehr ist dazu nicht zu sagen“, sagte Wagenknecht dem „Spiegel“. Mittlerweile haben die ersten Unterzeichner ihre Unterstützung zurückgezogen, unter anderem die Theologin Margot Käßmann. Auch die Spitze der Linken geht auf Distanz zu Wagenknecht.

Wie heikel die ganze Causa ist, zeigt auch die mysteriöse Antwort der Plattform-Betreiber. Obwohl unsere Redaktion nicht danach gefragt hat, ist es dem Sprecher offenbar sehr wichtig, zu betonen, dass „change.org“ eine offene Plattform sei, auf der verschiedene politische Ansichten zu Wort kommen. Ohne es explizit zu sagen, lesen sich die Zeilen wie eine Distanzierung. Obendrein bittet er darum, Zitate, die er selbst gesendet hat und die den Großteil der Fragen nicht beantworten, vorab vorzulegen – und dann doch bitte auch gleich den gesamten Text mitzuliefern.

Es bleibt ein Minenfeld.

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