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Wütend und leidenschaftlich: Wie diese Vier zu Gesichtern des Ukraine-Kriegs wurden

Erstellt:

Von: Luisa Billmayer, Philipp David Pries, Marie Ries, Nils Tillmann

Auf sozialen Medien und im Fernsehen teilen diese Vier sehr unterschiedliche Perspektiven auf den Ukraine-Krieg.
Vier Gesichter des Krieges: Fotografin Valeria Shashenok, Präsident Wolodymyr Selenskyj, Botschafter Andrij Melnyk und Kiew-Bürgermeister Vitali Klitschko. © Ukrainian Presidential Press Office/Planet Pix via ZUMA Press Wire/Michael Kappeler/Sergei Supinsky/valerisssh/TikTok/afp/dpa (Montage)

Ein beklemmendes TikTok-Video aus dem Bunker und ein flammender Twitter-Aufruf vor der Residenz: Grafiken zeigen, wie vier Ukrainer auf Social Media zu Gesichtern des Krieges wurden.

Kiew – Wer hätte vor dem Ukraine-Krieg denn schon mit dem Nachnamen Selenskyj etwas anfangen können? Wer hätte sich vorstellen können, dass ein Botschafter namens Andrij Melnyk zu einem ständigen Gast bei Sendungen von Markus Lanz wird? Dieser Krieg hat einigen Menschen eine neue Rolle und Öffentlichkeit gegeben. Durch Twitter, Telegram, TikTok und das Fernsehen erreichten sie Millionen. Unsere Datenanalysen der Social-Media-Kanäle von vier dieser viel beachteten Gesichter zeigt, wie ein jeder dort sein Publikum fand. Für die eigenen Botschaften, aber auch für Emotionen und Wut angesichts dieses über das Land hereingebrochenen Krieges.   

Gesicht I: Wolodymyr Selenskyj auf Twitter

Alles beginnt am frühen Morgen mit einem flammenden Appell auf Twitter. Mit einem Video vor seiner Residenz macht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj klar, dass er trotz des gerade begonnenen Krieges in Kiew bleiben wird. „Wir werden unser Land verteidigen, Ruhm für die Ukraine“, ruft er in die Kamera. Eine Analyse sämtlicher Tweets seit Kriegsbeginn zeigt: Dieses Video mit 420.000 Likes markiert den Höhepunkt des weltweiten Interesses.

Doch es ist zugleich nur der Auftakt Selenskyjs, das Medium Twitter als seinen Kanal in die Welt der Politik, Diplomatie und der Ukrainer zu nutzen. Mehr als 2000 Tweets auf Ukrainisch und Englisch folgten. Unser Diagramm sämtlicher Tweets in diesem Artikel spiegelt zugleich den Kriegsverlauf mit seinen Angriffen, Eroberungen und historischen Wendungen wider – und Selenskyjs Reaktion darauf.

Wer sich den ukrainischen Präsidenten beim Twittern klischeehaft als nächtlichen Präsidenten im Bunker vorstellt, der irrt: Die meisten Tweets setzten er oder seine Mitarbeiter zwischen 16 und 17 Uhr ab, die meisten innerhalb der Arbeitszeit eines Büromenschen. Es ist wohl so etwas wie eine vermeintliche Normalität inmitten eines Kriegslebens als Präsident. Nicht zuletzt durch Twitter und seine häufigen und teilweise emotionalen Ansprachen wurde Selenskyj im In- und Ausland zu einem weithin beachteten Gesicht dieses Krieges.

Gesicht II: Valeria Shashenok auf TikTok

Auch Valeria Shashenok erreicht im vergangenen Jahr unverhoffte Berühmtheit. Als Fotografin nutzt sie ihren TikTok-Account und dokumentiert ihr Leben im bombardierten Tschernihiw. In der Stadt nordöstlich von Kiew harrt die inzwischen 21-Jährige zusammen mit ihrer Familie mehrere Tage in einem Bunker aus.

In dieser Zeit entsteht das reichweitenstärkste Video der Ukrainerin: Mit dem bekannten italienischen TikTok-Song „Che La Luna” stellt sie ihren typischen Tag vor. Ein Trend, den andere erfunden und schon viele vor ihr aufgegriffen haben. Aber während in den meisten dieser Videos Menschen zu beobachten sind, wie sie Kaffee aufbrühen oder zur Arbeit fahren, zeigt Shashenok ihre zerstörte Heimatstadt, die improvisierte Kochstelle im Luftschutzkeller und leere Supermarktregale. Die Mischung aus sonst fröhlichen TikTok-Formaten gepaart mit der Kriegsrealität berührt Millionen Menschen.

Mitte März verlässt Shashenok die Ukraine. Ihre Erlebnisse teilt sie jedoch weiterhin auf TikTok: Sie zeigt, wie sie als Geflüchtete über Polen nach Italien reist. Später verbringt sie einige Zeit in Deutschland. Auch die Öffentlichkeit außerhalb sozialer Medien wird auf die Ukrainerin aufmerksam. Sie trifft Politiker, gibt Interviews, besucht das Europäische Parlament und schreibt ein Buch – sie wird endgültig zu einem Gesicht des Krieges.

Gesicht III: Andrij Melnyk im Fernsehen

Gerade in den ersten Kriegsmonaten sorgt ein Ukrainer immer wieder für Aufsehen: Andrij Melnyk. Der Botschafter in Deutschland bezichtigt die Bundesregierung häufig, bei Waffenlieferungen zu zögerlich zu sein. Außerdem nennt er Bundeskanzler Scholz eine „beleidigte Leberwurst“. Auf Twitter folgen Melynk mittlerweile fast 200.000 Menschen. Noch viel mehr Menschen erreichte er allerdings mit seinen Auftritten im deutschen Fernsehen. In Talkshows wie „Anne Will“ oder „Brennpunkt“ mit dem ukrainischen Diplomaten als Gast schauen ihm in zwölf Monaten insgesamt fast 47 Millionen Zuschauer zu. In unserer Visualisierung zeigen wir, in welchen Monaten ihm die meisten Menschen zusahen.

Zum Oktober 2022 hin wird Melnyk als Botschafter abberufen. Spekuliert wird, ob sein Weggang möglicherweise mit Äußerungen zum umstrittenen ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera zusammenhängt. Kiew verneint dies. Von der Bildfläche verschwunden ist Andrij Melnyk allerdings trotzdem nicht: Als Vize-Außenminister der Ukraine bleibt der 47-Jährige eine kritische Stimme in der Debatte rund um den russischen Angriffskrieg.

Gesicht IV: Vitali Klitschko auf Telegram

Noch vor zehn Jahren verteidigt Vitali Klitschko seinen Weltmeistertitel im Schwergewichtsboxen im Ring, nun trägt er ab Februar 2022 plötzlich die Verantwortung für eine umkämpfte Stadt von einst dreieinhalb Millionen Menschen. Als Bürgermeister von Kiew schreibt Klitschko in der Folge fast täglich auf dem Messengerdienst Telegram über die Lage in der kriegsgebeutelten Hauptstadt. Dort macht er Ankündigungen, verfasst aber auch inbrünstige Appelle. An einigen wiederkehrenden Begriffen lassen sich dabei die großen Krisen erkennen, wie unsere Grafik zeigt.

Kurz nach Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 erklärt Klitschko, dass er in Kiew bleiben werde. Anfang März stoßen russische Truppen bis an die Stadtgrenzen der Hauptstadt vor, werden aber bis zum Ende des Monats wieder zurückgedrängt. Dies spiegelt sich auch in den Telegram-Nachrichten. Im März erscheinen auf Klitschkos Kanal im Schnitt mehr als drei Nachrichten pro Tag. Kurz nach der Invasion beruft sich Klitschko oft auf das neu ausgerufene Kriegsrecht, bei Angriffen auf die Stadt rückt die kritische Infrastruktur in den Vordergrund. Für das russische Militär und seine Angriffe taucht vor allem ein Wort immer wieder auf: „barbarisch“.

Transparenz: Unsere Daten, Quellen und Methoden

Für die Selenskyj-Analyse haben wir sämtliche Tweets des ukrainischen Präsidenten seit Jahresbeginn 2022 und deren Metadaten automatisiert erfasst sowie anschließend aufbereitet und ausgewertet. Für die Analyse der Aktivitäten der TikTokerin Valeria Shashenok haben wir sämtliche Videolinks und Aufrufe der Übersichtsseite und der einzelnen Videodetailseiten automatisiert erfasst und verbunden. Inzwischen gelöschte Videos wurden entfernt. Bei der Betrachtung Melnyks haben wir von der Seite fernsehserien.de alle seiner Auftritte bei maischberger, Maybrit Illner, Anne Will, hart aber fair, Brennpunkt und Markus Lanz erfasst. Auf Basis von Daten von ARD, ZDF und DWDL haben wir die monatlichen Zuschauerzahlen berechnet. Für die Klitschko-Analyse haben wir alle Nachrichten von Klitschkos Telegram-Kanal zwischen Februar 2022 und Januar 2023 automatisiert erfasst. In der Grundgesamtheit aller Nachrichten haben wir häufig verwendete Begriffe identifiziert, maschinell übersetzt und auf die zeitliche Verteilung überprüft.

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