Wege aus der Steuer-Demographie-Falle: Zusatzarbeit muss sich wieder lohnen

In Deutschland werden die Arbeitskräfte knapp. Gewerkschaften und viele Ökonomen sehen höhere Löhne als Lösung. Doch der Ansatz greift zu kurz, schreibt Prof. Friedrich Heinemann vom ZEW in Mannheim und sieht die Politik in der Pflicht.
Der Mangel an Arbeitskräften ist zu einer zentralen gesellschaftlichen Herausforderung in Deutschland geworden - ob in Handwerk, Industrie, Dienstleistungen, Pflege, Gesundheitssystem oder Schulen und Kindergärten. Die aktuellen Engpässe sind dabei erst der Anfang einer Entwicklung, die sich mit der beginnenden Ruhestandswelle der Babyboomer zuspitzen könnte.
Verschärft wird die Perspektive noch durch einen weiteren Trend: In Umfragen antworten immer mehr Menschen, dass sie ihre Arbeitszeit gerne weiter verringern würden. Eine schrumpfende Anzahl der Erwerbspersonen kombiniert mit einer weiteren Arbeitszeitverringerung wäre ein schweres Handicap für die vielen unerledigten gesellschaftlichen Aufgaben.
Arbeitskräftemangel: Ökonomen sehen höhere Löhne als Lösung
Unter deutschen Arbeitsmarktökonomen ist zur Lösung des Problems eine einfache Antwort populär. Die These lautet, dass schlicht die Löhne steigen müssen, um den Mangel zu überwinden. Nach dieser Lesart gibt es eigentlich keinen Arbeitskräftemangel, sondern nur eine bislang fehlende Anpassung der Löhne an die Knappheit des Faktors Arbeit. Diese Antwort klingt plausibel und greift dennoch zu kurz. Sie übersieht den Fiskus und seinen massiven Zugriff. Lohneerhöhungen sind in Deutschland mit derart hohen Zusatzabgaben verbunden, dass sie isoliert kaum ein geeignetes Mittel sind, Menschen zu Mehrarbeit zu veranlassen.
Die Fakten: Deutschland gehört zu den OECD-Ländern, in denen der Durchschnittsverdiener mit den höchsten Grenzabgaben für eine zusätzliche Arbeitsstunde konfrontiert ist. „Grenzabgaben“ bezeichnen den Betrag an Steuern und Sozialabgaben, der auf Zusatzeinkommen fällig wird. Für 100 Euro zusätzliche Arbeitskosten, die auf einen allein stehenden Durchschnittsverdiener in der Industrie entfallen, werden nach OECD-Zahlen 59 Euro an Steuern und Sozialabgaben fällig. Hier enden die Belastungen nicht.
Stimme der Ökonomen
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Fehlanreiz für Mehr-Arbeit: In keinem anderen OECD-Land wird Extra-Arbeit so hoch besteuert
Gibt der Arbeitnehmer das verbleibende Nettoentgelt aus, treibt die Mehrwertsteuer einen weiteren Keil zwischen seinen Netto-Lohn und seine realen Konsummöglichkeiten. Das bedeutet: Von drei Euro Zusatzkosten für den Arbeitgeber bleiben letztlich weniger als ein Euro an Konsummöglichkeiten übrig. Angesichts dieser Relationen „einfach“ die Löhne zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels zu erhöhen, wird nicht viel nützen. Die Lohnerhöhungen würden zwar die privaten Unternehmen und in Gesundheit, Pflege und Schulen den Staat voll treffen, den Arbeitnehmern aber nur eine sehr geringe Ausweitung ihres verfügbaren Einkommens bringen.
Steuerliche Fehlanreize: Deutschland Schlusslicht bei der Jahresarbeitszeit
Angesichts dieser massiven Belastung verwundert es nicht, dass die Jahresarbeitszeit pro Kopf in Deutschland die niedrigste aller OECD-Länder ist. Internationale Vergleiche bestätigen eine negative Korrelation zwischen Grenzabgaben und Arbeitseinsatz. Länder, bei denen Menschen wie in den USA oder in der Schweiz deutlich mehr Stunden als in Deutschland arbeiten, sind oft durch niedrigere Grenzabgaben gekennzeichnet. In den USA liegt die Grenzbelastung bei 41 Prozent, in der Schweiz sogar nur bei 32 Prozent und damit nur wenig über der Hälfte des deutschen Werts. Dem steht eine Jahresarbeitszeit der Amerikaner von 1791 Stunden und der Schweizer von 1.533 Stunden im Vergleich zu 1349 Stunden in Deutschland gegenüber. Vor diesem Hintergrund überzeugt es nicht, die geringe Arbeitsbereitschaft der Deutschen achselzuckend als unveränderliche Freizeitpräferenz zu betrachten, sie ist auch das Ergebnis steuerlich bedingter Fehlanreize.
Ins Leere läuft auch der Einwand, dass die niedrige Arbeitsbereitschaft durch den hohen deutschen Wohlstand erklärbar ist und sich die Deutschen einfach mehr Freizeit als andere Länder leisten könnten. Schweizer und Amerikaner sind deutlich wohlhabender als die Deutschen und arbeiten weit mehr. Auch ist das Argument irreführend, dass insbesondere männliche Arbeitnehmer in Deutschland ohnehin meist Vollzeit arbeiten und daher nicht auf steuerliche Anreize reagieren. Dieses Argument ist empirisch zwar korrekt im Hinblick auf die individuelle Entscheidung, es übersieht aber die kollektive Entscheidungsebene. Die kollektiv vereinbarte Stundenzahl für „Vollzeit“ wird durch den massiven Steuerkeil negativ beeinflusst, weil die Gewerkschaften das geringe Interesse ihrer Mitglieder am Lohn von Zusatzstunden in die Verhandlungen einbringen. Männer mögen tatsächlich meistens Vollzeit arbeiten; wie diese „Vollzeit“ aber in Tarifverträgen festgelegt wird, das ist ein Ergebnis der Abgabenlast und ihrer Fehlanreize.
Arbeitskräftemangel: Weg von der der Diskussion ums Ehegattensplitting
Mit dem „Vollzeit-Mann“-Argument ist die Debatte um Arbeitsanreize in der arbeitsmarktpolitischen Debatte derzeit auch einseitig auf das Ehegattensplitting und die negativen Anreize für Zweitverdiener verengt. Es ist richtig, dass bei der hohen Teilzeitquote von Frauen noch ein Potenzial für eine Ausdehnung von Arbeitskraft schlummert und auch hier steuerliche Hindernisse beseitigt werden sollten. Das Potenzial zusätzlicher Arbeitsstunden bei den Vollzeit-Kräften jedweden Geschlechts ist jedoch ungleich höher. Insofern ist die auf das Ehegattensplitting reduzierte Debatte um die Arbeitsanreize auf dem wichtigeren Auge blind.
Ohne Korrekturen am Abgabensystem könnte der deutsche Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren in eine Steuer-Demographie-Falle geraten: Die demographische Entwicklung lässt die Kosten von Rente, Pflege und Gesundheit steigen, dies führt zur weiteren Steigerung der (Grenz-)abgaben. Damit werden noch stärkere Anreize für Menschen im erwerbsfähigen Alter gesetzt, die Arbeitszeit immer weiter zu verringern – ein klassischer Teufelskreis.
Arbeitskräftemangel: Zusatzstunden steuerfrei stellen
Welcher Ausweg bietet sich an? Klar ist erstens, dass es letztlich auf die Begrenzung von Staatsausgaben insgesamt ankommt, um die Steuerlast zu begrenzen und die Leistungsanreize zu verbessern. Ergänzend sind zweitens gezielte steuerliche Anreize für Mehrarbeit empfehlenswert. Genauso wie jetzt ein Inflationsausgleich steuerlich frei gestellt wurde, könnten zukünftig beispielsweise Zusatzstunden über der Regelarbeitszeit steuerlich frei gestellt werden. Der Staat könnte den Tarifparteien anbieten, eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf diese Weise zu flankieren. Mit guten Argumenten haben sich Reformen im Steuer-Transfersystem der zurückliegenden Jahre stark auf die Arbeitsanreize beim Eintritt in die Beschäftigung befasst.
Künftige Reformen sollten stärker auch auf die Ausdehnung der individuell und kollektiv vereinbarten Arbeitszeiten abzielen. Es bedarf eines grundlegenden Umdenkens: Zusatzarbeit ist für unsere Gesellschaft sehr wertvoll und sie wird immer wertvoller. Das Abgabensystem sollte diese Werte nicht länger zunichtemachen.
Zum Autor: Prof. Dr. Friedrich Heinemann leitet den Forschungsbereich „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und lehrt Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg.