WM 2022: Die größte Katar-Kritik kommt von einem Land, das nicht qualifiziert ist

Nirgends ist der Katar-Gegenwind größer als in Norwegen. Zwischenzeitlich gab es eine heftige Boykott-Debatte. Das Land ist nicht qualifiziert – doch die Kritik bleibt.
Oslo/Doha – Lise Klaveness passt nicht ins Bild der Fifa. Anders als viele ihrer – meist männlichen – Kollegen hat die Chefin des norwegischen Fußballs ein Problem mit dem Fußballweltverband. Und sagt das auch offen und ehrlich. Wie zuletzt auf dem Fifa-Kongress in Doha. Sie ist eine Symbolfigur der norwegischen Katar-Kritik.
Katar-WM: Norwegen kritisiert „inakzeptable“ WM – Infantino lobt „größte Show der Erde“
Die frühere norwegische Nationalspielerin begann ihre Rede mit Erinnerungen an ihre Kindheit. Sie habe als kleines Mädchen mit dem Fußballspielen begonnen, um dazugehören. Sie habe sich in den Sport verliebt. Einen Sport, den die Fifa kaputtzumachen drohe. „Im Jahr 2010 wurde die Weltmeisterschaft von der Fifa auf inakzeptable Weise und mit inakzeptablen Folgen vergeben“, sagte Klaveness.
Nicht in den Vergabeprozess berücksichtigt worden seien „Menschenrechte, Gleichberechtigung und Demokratie, die Kernanliegen des Fußballs“. Ihre Rede war eine schallende Ohrfeige für die Fifa und Katar, die Reaktion im Auditorium entsprechend kühl. Sie habe sich dort „ein bisschen einsam“ gefühlt, sagte Klaveness später im Interview mit dem Sport-Informationsdienst.
Klaveness ist das, was man in Norwegen eine „fotballjente“ nennt, ein Fußballmädchen. Als Kind schlief sie mit dem stinkenden Ball im Bett ein, als erwachsene Frau spielte sie 73-mal für ihr Land. Mit 41 Jahren kritisiert sie nun regelmäßig die Mächtigen des Profifußballs. So viel Gegenwind ist Fifa-Boss und Sonnenkönig Gianni Infantino eigentlich nicht gewohnt. Der Schweizer hat es lieber, wenn man seine Version der Katar-WM erzählt. So sei die WM „die beste aller Zeiten“, „die größte Show der Erde“. In Norwegen ist man anderer Meinung. Nirgendwo sonst auf der Welt wird das Turnier so kritisch gesehen.

Katar-WM: „Wir haben es probiert, einen Boykott zu erreichen“
Bis zum Sommer 2021 gab es ernstzunehmende Überlegungen, dass die norwegische Nationalmannschaft das Turnier im Winter 2022 boykottiert. Öyvind Alapnes, Klubchef des Erstligisten Tromsö IL, startete eine Initiative, durch die Druck auf den Verband ausgeübt werden sollte. Es folgte eine große Debatte im Land, an der sich auch der Verband beteiligte.
Die Nationalmannschaft um Dortmund-Star Erling Haaland setzte vor WM-Qualifikationsspielen ein Zeichen durch Botschaften auf Aufwärmshirts. So forderten sie etwa „Fair Play für Gastarbeiter“. Für Nationaltrainer Stale Solbakken (einst beim 1. FC Köln) ist klar, dass „Sport und Politik miteinander verbunden“ sind, man könne etwas bewegen. Ein Boykott wurde es am Ende aber nicht.
„Wir haben es probiert, einen Boykott zu erreichen“, sagt Tromsös Kapitän Ruben Jenssen im Gespräch mit Ippen.Media. „Aber wir sind so klein und können alleine nichts erreichen. Wir hatten zwar die Fans und andere Erstligisten hinter uns, aber am Ende hat sich der Verband gegen einen Boykott entschieden.“
Katar-WM: „Wir können nicht wegsehen, bei einer WM gegen alle Werte des Sports“
Der frühere Verbandschef und Klaveness‘ Vorgänger Terje Svendsen, sah in einem Boykott kein geeignetes Mittel, um Veränderungen in Katar herbeizuführen. Stattdessen wolle man im Dialog vor Ort die Menschenrechtslage verbessern. Zuvor hatte Norwegen einen neu gegründeten Katar-Ausschuss eingesetzt. Auch er kam zu der Einschätzung, dass die Nationalmannschaft nicht boykottieren sollte. Nun hat sich Norwegen ohnehin nicht für die WM in Katar qualifiziert. Die Kritik am Wüstenemirat ist damit jedoch nicht vorbei. Das zeigt nicht nur Lise Klaveness, die sich auf Anfrage nicht zu den Boykott-Plänen äußern wollte.
Tromsö, der nördlichste Profiklub der Welt, will weiter auf die Menschenrechtslage in Katar hinweisen. Der Erstligist geht dabei durchaus innovative Wege. Zuletzt wurde ein Trikot samt QR-Code vorgestellt. Scannt man das Jersey, landet man auf einer Informationsseite über Katar. „Wir sind nur ein kleiner Teil der Fußballwelt“, sagt Kapitän Jenssen über die 70.000-Einwohner-Stadt. „Aber wir können nicht wegsehen, wenn eine WM gegen alle Werte des Sports ausgetragen wird, wenn Menschen in Stadien sterben müssen.“
Norwegen: Große Medienkritik an Katar
Norwegens Medienlandschaft ist ebenfalls sehr Katar-kritisch. Regelmäßig wird in den großen Zeitungen wie Aftenposten oder Verdens Gang über die Lage vor Ort berichtet. Auch das norwegische Fernsehen war schon öfter vor Ort. Zwei Journalisten aus Norwegen wurden Ende 2020 mehr als 30 Stunden in Katar festgehalten. Dabei sollen Sicherheitskräfte auch Filmmaterial gelöscht haben. Die beiden Männer hatten zuvor kritisch berichtet. Die Pressefreiheit ist in Norwegen ein hohes Gut. Als Medien kurzfristig von einer Podiumsdiskussion in Katar ausgeladen wurden, sagte auch Klaveness ihre Teilnahme ab.
Im aktuelle Presseranking von Reporter ohne Grenzen belegt das skandinavische Land zum sechsten Mal in Folge den Spitzenplatz. „Unter anderem aufgrund eines großen Medienpluralismus, großer Unabhängigkeit der Medien von der Politik, starker Informationsfreiheitsgesetze und eines trotz gelegentlicher Online-Attacken journalistenfreundlichen Klimas“, wie Reporter ohne Grenzen erklärt.
WM-Kritiker Norwegen: Einer der größten Energiekonkurrenten Katars
Dass Norwegen der größte Kritiker Katars ist, überrascht nicht. Traditionell setzt sich Skandinavien sehr stark für Menschenrechte ein. Dass die Debatte um einen Katar-Boykott aus Norwegen gesteuert wird, könnte aber womöglich auch am Konkurrenzverhältnis zu Katar liegen. Wie das Wüstenemirat ist auch Norwegen ein großer internationaler Player auf dem Erdgas- und Erdölmarkt. Deutschland bezieht mehr als die Hälfte seines Erdgases aus Russland, knapp ein Drittel kommt aus Norwegen und ein kleiner Teil aus den Niederlanden.
Im Jahr 2020 importierte Europa laut Zahlen des Energiekonzerns BP knapp 115 Milliarden Kubikmeter Flüssigerdgas, auch LNG genannt. Wichtigster Handelspartner war laut der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe mit 27,1 Milliarden Kubikmeter Katar. Die USA lieferten 22,5 Milliarden Kubikmeter nach Europa, aus Russland kamen weitere 17,1 Milliarden Kubikmeter. Aber auch aus Norwegen importierte die EU größere Mengen LNG.
Flüssigerdgas
Flüssigerdgas (LNG) wird eingesetzt, wenn es keine Pipelineverbindung zwischen Hersteller und Abnehmer gibt. Erdgas wird flüssig, wenn es auf -162 Grad Celsius abgekühlt wird. Es ist für gewöhnlich teurer als Pipelinegas.
Nun haben westliche Länder wie Deutschland jüngst in ihre Energiepartnerschaft mit Katar intensiviert. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) verkündete jüngst eine „großartige“ Zusammenarbeit. Das Konkurrenzverhältnis zwischen Katar und Norwegen wird dadurch freilich größer. Ob es Auswirkungen auf die Kritik am Emirat hat, will die norwegische Regierung auf Anfrage nicht beantworten. Man will sich auf den Sport und die Missstände im WM-Gastgeberland konzentrieren. Da gibt es schließlich einiges zu kritisieren. (as)