Kadaver im Hinterhof: Wolf reißt Wild in unmittelbarer Nähe zu Wohnhaus - „Jeder schläft schlecht“

Zu zahlreichen Wolfs-Rissen ist es in Unterammergau bereits gekommen. Doch jetzt wurde zum ersten Mal ein totes Wild nahe der Wohnbebauung entdeckt. Die Betroffenen sind in Sorge.
Unterammergau – Herumgeschlichen ist der Wolf um den Stall. Mehrfach. Im Baaz hinterließ er seine Fußabdrücke. Hier und dort. Und direkt neben seinem Opfer. Franziska Offs Onkel hat den Kadaver eines Rotwilds am Freitagfrüh entdeckt, wie merkur.de berichtet. Nicht etwa draußen in der Prärie, sondern im Hinterhof ihres Wohnhauses mit Stall. „Noch näher geht’s nicht“, betont sie, „sonst steht er im Hausflur.“
Totes Tier so nah wie nie an der Wohnbebauung
Zahlreiche Wolfsrisse hat es in den vergangenen Wochen im Landkreis, allen voran in der Ammertaler Gemeinde, gegeben. Doch noch nie entdeckte man eines der getöteten Tiere so nah an der Wohnbebauung wie diesmal im Weiler Scherenau.
Der Schock sitzt Off und ihrem Nachbarn Leonhard Speer noch immer in den Gliedern. „Man weiß nicht, wo man sicher ist“, sagt die 28-Jährige. Denn in dem Gebiet häufen sich die Risse. Mal 100 Meter von den Höfen weg, mal 300 Meter. Die beiden fürchten um die Rinder, Rösser und Ziegen im Stall. „Man kann das Vieh nicht schützen“, betont Off. „Wenn der Wolf rein will, dann wartet er und kommt rein.“
Mit Kameras und Nachtsichtgeräten ausgestattet
Vier Mal hat Speer schon einen Wolf gesichtet. Erst am Montag wieder. „Neulich“, erzählt der Vollerwerbslandwirt, „ist einer um 19.30 Uhr das Feld heruntergelaufen.“ Da war es noch hell. Er hat – wie auch Besitzer anderer Anwesen, inzwischen Vorkehrungen getroffen - sich Kameras und Nachtsichtgeräte angeschafft. Seinen Hund fährt er mittlerweile mit dem Auto zum Stall, in dem der Vierbeiner schläft. Obwohl dieser nur einen Katzensprung entfernt liegt. Seiner Mama besorgte er für Spaziergänge Pfefferspray.
Die Stimmung bei den Bewohnern von Scherenau, sie ist angespannt. „Jeder schläft schlecht“, sagt der 28-Jährige. Immer wieder schreckt er auf, „wenn das Vieh plärrt“, wenn der Hund in der Nacht anschlägt. „Da ist Herzrasen angesagt.“ Der Weg in der Früh in den Stall – er ist anders als früher. Die Sorge begleitet einen, auf ein totes Wild, gar ein eigenes totes Tier zu stoßen. Off sagt: „Du fährst mit einem anderen Gefühl mit dem Schubkarren runter.“
Kaum Hoffnung auf Hilfe von der Politik
Den beiden graut vor dem Sommer. Speer hat seine Entscheidung bereits getroffen: „Meine Tiere bleiben daheim.“ Off wird ihre auf die Alm auftreiben. „Ohne zu wissen, ob das Vieh wieder heimkommt.“ Ob es unversehrt bleibt. Doch anders als sonst wird es nachts zurückgeholt. „Ein Mordsaufwand.“ Einer, der ihr zufolge nicht nötig wäre, wenn die Politik ein entsprechendes Zeichen setzen, die Entnahme zulassen würde. Doch die für Dienstag anberaumte Entscheidung über einen erleichterten Abschuss verschob das bayerische Kabinett auf kommende Woche. Die Hoffnung auf Hilfe haben die zwei Ammertaler längst begraben. Damit gehandelt wird, müsse es erst zu einem Vorfall mit einem Menschen kommen, glaubt Off.
Oft versteht sie vor allem die Tierschützer nicht, die auf den Schutzstatus des Räubers pochen. „Das Wild leidet auch“, betont sie. Zumal ermanchmal scheinbar aus reiner Mordlust angreift. Teilweise, berichtet Speer, der im Jagdausschuss des betroffenen Reviers sitzt, beißt er nur in die Kehle. „Ein natürliches Verhalten ist das nicht mehr.“
Die zwei wollen keine Panik schüren. Aber anderen, die Augen öffnen für die Realität. Viele würden gar nicht wissen, wie viele Risse es schon gegeben hat. Und „viele“, meint Speer, „haben die Gefahr noch nicht erkannt“.
Hirte hat Respekt vor Almsommer
Jakob Fischer gehört definitiv nicht zu diesem Personenkreis. In drei, vier Wochen macht er sich auf den Weg zur Langtalalm im Pürschlinggebiet. Als Hirte kümmert sich der Bad Kohlgruber dann jeden Tag ums aufgetriebene Vieh. Seine Vorfreude auf den Almsommer hält sich heuer in Grenzen. „Ich hab’ Respekt davor“, sagt der 34-Jährige. Denn seine Frau und seine zwei kleinen Kindern begleiten ihn. Fest steht: „Wir werden die Kinder draußen nicht unbeaufsichtigt lassen.“ Auch wird er nachts lieber in seiner Bleibe verharren. Er wünscht sich einfach nur, dass nichts passiert. Dass die Tiere verschont bleiben. Ansonsten braucht er wohl einen guten Magen ob der gerne grausig zugerichteten Wolfsopfer.
Die Risse in Unterammergau sind derzeit das Ortsgespräch Nummer eins. Das bestätigt Bürgermeister Robert Stumpfecker. Er selbst sei entsetzt gewesen, als er am Freitag von dem Fall in Scherenau erfuhr. „Was der Wolf da betreibt, ist kein Kavaliersdelikt“, sagt der Rathauschef. Dass dieser offensichtlich die Scheu verloren hat und so nah an die Wohnbebauung kommt, „ist schon bedenklich“. Sofort informierte er Landrat Anton Speer und warnte das Team des Kreisjugendrings, das sich mit Zehn- bis Zwölfjährigen im Jugendbergheim „Dr. Max Irlinger“ aufhielt. Doch wusste dieses schon Bescheid, das es aufpassen soll.
Der Wolf verliert die Scheu.
Das Spannungsfeld zwischen der Daseinsberechtigung des Lebewesens und der Pflege der hiesigen Kulturlandschaft kennt der Rathauschef freilich. Für beide Seiten gibt es Argumente. Seinen Standpunkt vertritt er aber mit aller Deutlichkeit: „Der Wolf passt in unsere Gesellschaft nicht mehr rein.“
Treiben die Landwirte ihr Vieh auf?
Fix ist nur, dass es nicht mehr lang hin ist bis zum Auftrieb. Wie Speer und Off würden viele Bauern überlegen, ob sie überhaupt auftreiben, sagt Solleder. Rund 60 bis 70 Jungrinder, dazu 20 Rösser mit Fohlen kommen für gewöhnlich auf die Sommerweide in Richtung Pürschling. „Wir werden alles herrichten, aber jeder Landwirt muss für sich selbst entscheiden, was er macht.“
Ein Problem an der ganzen Geschichte: Die Vorweide, auf die die Unterammergauer im Normalfall sehr früh die Tiere treiben, liegt knapp oberhalb von der Scherenau. „Da hatten wir allein in den vergangenen zehn Tagen drei Wildrisse“, betont der Kreisobmann. Nicht gerade vertrauensbildend. So wie die Fußstapfen rund um die Höfe im Weiler.