Schottland: Anarchie und Marschmusik

Die schottische Hauptstadt Edinburgh ist die wohl vielseitigste Festivalstadt Europas. Im August befindet sie sich im Ausnahmezustand.
„My name is Paul! Your name is?“ “Max“ kommt zögerlich die Antwort des Achtjährigen mit dem Deutschland-Rucksack. Er war der einzige, der sich auf die Frage des Straßenkünstlers, wer von den umstehenden Zuschauern aus Deutschland käme, gemeldet hat. Sein Mut hat ihm einen Auftritt als Assistent eingebracht. Der Gaukler meint, dass er von allen anwesenden Deutschen wohl die „dicksten Eier“ habe.

Derbe Späße gehören zum Repertoire der Entertainer, die im August jede Ecke der Royal Mile zur Bühne machen. Sie jonglieren, zaubern, und fahren Einrad. Immer stacheln sie ihr Publikum an, sie anzufeuern. Immer rekrutieren sie mehr oder minder freiwillige Assistenten aus dem Publikum, die oft Witze auf ihre Kosten ertragen müssen und meistens überzeugen sie am Ende eher durch ihren Humor als durch ihr artistisches Können. Die Royal Mile ist die Lebensader der Stadt. Sie zieht sich vom Palace of Holyroodhouse, der offiziellen Residenz von Elisabeth der II., wenn sie in Schottland weilt, hoch bis zum Sitz der alten Herrscher, dem die Stadt überragenden Schloss. In ihrem oberen Teil kann man in der Scotch Whisky Experience alles über das schottische Nationalgetränk lernen und es auch probieren. Hier können sich die Geschäfte mit ihren Kilts und Dudelsäcken normalerweise der Aufmerksamkeit der Touristen sicher sein.
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Doch im August lenken nicht nur die Straßenkünstler vom Shoppen ab sondern auch die Tänzer, Schauspieler und Comedians, die aus über 60 Ländern zum Fringe Festival gekommen sind. Sie alle wollen Zuschauer in ihre Shows locken, die an über 259 Veranstaltungsorten zu sehen sind. Über 40.000 Vorstellungen von fast 2.500 Stücken werden in diesem Jahr gegeben. Die Künstler werden von der Hoffnung angelockt, von einem der rund 1000 Talentscouts und Produzenten, für die das Festival ebenfalls ein Pflichttermin ist, entdeckt zu werden und von seiner legendären Atmosphäre, die sie letztlich selbst erzeugen.
Edinburgh - Impressionen im August
Angefangen hat alles 1947 mit dem Edinburgh International Festival. Es brachte Theater, Oper, klassische Musik und Tanz der Spitzenklasse in die Stadt. Aus Protest gegen seine Exklusivität traten bereits im selben Jahr nicht eingeladene Theatergruppen an seinem Rand (Fringe) auf. Inzwischen hat das bis heute freie Festival das traditionelle an Bedeutung überholt. Beim Fringe Festival trifft niemand eine Auswahl. Jeder kann teilnehmen, der bereit ist, das wirtschaftliche Risiko selbst zu tragen.
Das größte Militärmusikfestival der Welt
Das hört sich wild und gefährlich an – sei aber recht bürokratisch organisiert. So sieht das zumindest Rosalie Delaney. Die in Berlin lebende Australierin ist das erste Mal dabei und stellt sich mit ihrem Stück „Berlin for Beginners“ der harten Konkurrenz. Fünf Monate Vorbereitung habe sie das gekostet. Sie ist froh über die Erfahrungen, die sie hier machen kann, aber ärgert sich auch über das überteuerte Zimmer, das jetzt ihr vorübergehendes Zuhause ist.
Die Einwohnerzahl der Stadt verdoppelt sich im August von 500.000 auf eine Millionen, da wird der Wohnraum knapp. Auch ein Buch-, ein Kunst- und ein Jazz und Blues Festival machen ihn zum Festivalmonat. Und nicht zuletzt das - gemessen an der Zuschauerzahl - größte Militärmusikfestival der Welt: Das Edinburgh Military Tattoo.
Seit 1950 haben 12 Millionen Menschen auf den Tribünen, die dafür alljährlich auf dem Vorplatz des Schlosses errichtet werden, Platz ge-nommen. Fast 9.000 Menschen folgen zwischen dem 6. und dem 28. August jeden Abend (außer sonntags) dem eineinhalbstündigen Programm.
Eingerahmt wird es vom alljährlich wiederkehrenden Auftritt der Massed Pipes & Drums, die sich in diesem Jahr aus 12 Dudelsackkapellen zusammen setzen. Die meisten kommen aus Schottland, aber auch aus Australien, Südafrika, den USA und der Schweiz. Den jährlich wechselnden Programmteil bestreiten dieses Mal die mit langen Hörnern und Kuhglocken bewährte Militärmusikka-pelle der polnischen Grenztruppen, eine von Reitern und Fußsoldaten unterstützte Kapelle der jordanischen Armee und die durch ihr Kampfgeschrei beeindruckende neuseeländische Armeekapelle. Die Gäste aus dem Ausland wirken in ihren bunten Uniformen eher wie Akteure auf einem Maskenball, als Bestandteile einer kämpfenden Truppe.
Doch die Auftritte der britischen Militärbands werden immer wieder mit den aktuellen Kampfeinsätzen der Soldaten im Irak und Afghanistan verknüpft. In einer Spielszene durchsuchen Soldaten, die demnächst nach Afghanistan gehen werden, als afghanische Zivilisten verkleidete Kameraden nach Waffen.
Ein Tenor stimmt „Here´s to the Heroes“ an. Das große Finale gipfelt in der britischen Nationalhymne gefolgt von der schottischen. Beide werden vom Publikum mitgesungen, das bei letzterer sich die Hände reicht – in Nachahmung der schottischen Flagge über der Brust verschränkt. Die letzten Töne spielt zum Gedenken an die Gefallenen der britischen Armee, der einsam auf den Zinnen der Burg stehende „Lone Piper“, ein einzelner Dudelsackspieler. Für Allen Campbell einem der Trommler des Dritten Battalions des Königlich Schottischen Regiments ist das der Höhepunkt der Veranstaltung. Er selbst geht nächstes Jahr zum ersten Mal nach Afghanistan. Letztes Jahr sind dort fünf Angehörige seiner Einheit gestorben.
Christian Hoffmann
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REISEZIEL: Edinburgh ist das gesellschaftliche und kulturelle Zentrum Schottlands. Sie zählt zu den schönsten Städten Großbritanniens. Das Stadtzentrum ist sehr kompakt.
ANREISE: Der Flughafen von Edinburgh (EDI) liegt 11 km westlich vom Stadtzentrum. British Airways, Air Berlin und Lufthansa bieten Dirketfläge nach Edinburgh an.
FESTIVALS IM AUGUST: Jeder Raum der Stadt wir für unterschiedliche Veranstaltungen genutzt. Das Programm reicht von Feiluft-Konzerten bis Produktionen der Royal Shakespeare Company.
- 6. - 30.8.2010 Edinburgh Festival Fringe
- 6. - 28.8.2010 The Royal Edinburgh Military Tattoo
- 13.8.- 5.9.2010 Edinburgh International Festival
- 14. -30.8.2010 Edinburgh International Book Festival
- 29.7.- 5.9.2010 Edinburgh Art Festival
- 30.7.- 8.8.2010 Edinburgh Jazz & Blues Festival
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