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Marco Russ: „Die Welt ist aus den Angeln gehoben“

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Von: Thomas Kilchenstein

Marco Russ.
Marco Russ. © Andreas Arnold/dpa

Eintracht-Urgestein Marco Russ arbeitet nach seinem Achillessehnenriss unermüdlich an seinem Comeback. Die Corona-Krise könnte ihm Zeit schenken.

Es gibt nicht viele Menschen heutzutage, die der aktuellen Krise Positives abgewinnen können, aber Marco Russ, der in seinem Leben auch viel Negatives erfahren musste, gehört dazu. Seit ein paar Tagen steht der Innenverteidiger von Eintracht Frankfurt wieder auf dem Trainingsplatz, er übt in Kleinstgruppen, passt, schießt, flankt. „Es macht Spaß, wieder mit den Jungs auf dem Platz zu sein - auch wenn es nicht so viele sind“, sagt der 34- Jahre alte Profi in einem vereinseigenen Interview. Eintracht Frankfurt hält sich peinlich genau an die Vorgaben der Politik, geht auch im Tagesgeschäft mit dem Ball auf Abstand. „Das war mein erstes großes Teilziel“, sagt Marco Russ, endlich darf er wieder an den Ball, wenn auch unter wenig erfreulichen Bedingungen. Viele hatten damit schon nicht mehr gerechnet, hatten den rustikalen Verteidiger abgeschrieben.

Marco Russ: Es geht bergauf

Mittlerweile habe er enorm viel aufgeholt, läuferisch sei er auf dem Damm, fit nach dem „eintönigen, langweiligen, öden“ Reha-Programm und den jüngsten individuellen, der Corona-Krise inklusive Quarantäne geschuldeten Fitness-Übungen allemal. Lediglich „der Kraftaufbau der rechten Wade“ sei noch nicht vollends abgeschlossen, „da fehlt noch etwas“, grundsätzlich aber, sagt Russ optimistisch, „geht es bergauf“. Wenigstens sei die bleierne Zeit des Einzeltrainings vorbei, „gerade uns Sportlern fällt irgendwann die Decke auf den Kopf“. Er habe da desöfteren „auf die Zunge beißen“ müssen. Inzwischen arbeitet er, wie die Kollegen, auf den Tag x hin, „das kann in vier Wochen sein oder in acht“. Dann müsse man bereit sein, denn sofern der Ball wieder rollen darf, wird es „Schlag auf Schlag gehen“.

Es war am 15. August des vergangenen Jahres, als die Achillessehne im rechten Fuß riss. Russ durfte mal wieder spielen, es ging in der Europa League-Qualifikation zu Hause gegen den FC Vaduz. Es ging um nicht mehr viel, die Hessen hatten bereits das Hinspiel 5:0 gewonnen, das Weiterkommen war reine Formsache. Dann riss bei einem harmlosen Kopfballduell die Sehne, Russ musste vom Platz getragen werden. Eine viel schlimmere Verletzung für einen Profisportler gibt es kaum noch, manche unkten schon vom Karriereende des in diesem August 35 Jahre alt werdenden gebürtigen Hanauers.

Tatsächlich gehörte der Haudegen, seit seinem zehnten Lebensjahr bei Eintracht Frankfurt und damit der mit Abstand dienstälteste Spieler, schon damals nicht mehr zur Stammformation. Das lag im Wesentlichen an einem Schicksalsschlag, der nicht wenige komplett aus der Bahn geworfen hätte. Mitte Mai 2016, die Hessen steckten mitten in zwei Relegationsspielen gegen den 1. FC Nürnberg, war beim zweifachen Familienvater eine Hodenkrebserkrankung diagnostiziert worden. Mittlerweile gilt Russ als geheilt, sein umjubeltes Comeback auf dem Rasen feierte er im Februar 2017, 285 Tage nach seiner Operation, im Pokalviertelfinale gegen Arminia Bielefeld. Einer wie Russ hat also weitaus Gravierenderes erlebt und auch überlebt als einen Sehnenriss an der Ferse. Die Krebserkrankung hat das Frankfurter Urgestein, der sein erstes Bundesligaspiel am 18. März 2006 (gegen den MSV Duisburg) bestritt, reifer werden lassen, vernünftiger, sein Blick auf die Welt ist, logisch, ein anderer geworden. Er weiß die Dinge jetzt anders einzuordnen. Das war nicht immer so: Russ hat sich vorher um manches nicht viele Gedanken gemacht, einmal musste er 160 000 Euro an Strafe zahlen, weil er wegen zu schnellen Fahrens nicht zu einer anberaumten Gerichtsverhandlungen erschienen war und statt dessen ein Freundschaftsspiel mit der Eintracht spielte, dann legte er sich vor Jahren in aller Öffentlichkeit mit Ehrenspielführer Jürgen Grabowski an, den er als „Vollexperten“ herablassend bezeichnet hatte. Alte Kamellen, längst Schnee von gestern.

Eintracht Frankfurt wird den Vertrag kaum verlängern

Längst genießt Marco Russ innerhalb der Mannschaft eine hohe Akzeptanz. Er ist ein Leader in der Gruppe, eine Führungspersönlichkeit – egal, ob er spielt oder nicht. Der Wert von solchen Typen wie Marco Russ lässt sich bei weitem nicht nur an gewonnenen Zweikämpfen bemessen, inzwischen tritt er eher wie der Vater der Kompanie auf. Strömungen nimmt er sehr genau wahr, er schaut, dass keiner aus der Reihe tanzt oder sich selbst zu wichtig nimmt. „Er ist ein super Typ, ganz wichtig für die Mannschaft. Bei ihm weiß man, was man hat“, hob Trainer Adi Hütter den Daumen. Auch deswegen wurde der Kontrakt des Profis im vergangenen Jahr noch einmal verlängert.

Wie es mit Marco Russ weitergeht? Sein Vertrag läuft am 30. Juni aus. Ob er noch einmal verlängert wird, ist eher unwahrscheinlich, Russ dürfte nach seiner Karriere in irgendeiner Form im Klub eingebunden werden. Er zählt ja zu den rar gesäten Identifikationsfiguren. Am liebsten würde Marco Russ natürlich noch einmal auf den Rasen zurückkehren, ob mit Zuschauern oder nicht. „Ein bisschen habe ich ja Zeit gewonnen“ durch das Virus, sagt Russ, die Saison, die eigentlich am 16. Mai hätte enden sollen, wird mit Sicherheit um Monate verlängert, das könnte dem Stopper in die Karten spielen. An sein Comeback glaubt er weiterhin.

Nur eines fällt auch ihm, einem mit mehr als 350 Pflichtspielen für die Eintracht sehr erfahrenen Spieler, schwer: Den jungen Spielern durch diese Krise helfen. „So etwas, wie im Augenblick hat ja noch keiner von uns erlebt. Die Welt ist aus den Angeln gehoben.“ Aber davor einknicken kommt für Marco Russ nicht in Frage. Da hat der Mann schon Schlimmeres überstanden.

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