Je mehr Trainingseinheiten ich hier mache, desto besser fühle ich mich. Ein Gefühl, das ich 2022 nicht über so viele Wochen hatte. Der Trainingsstart war immer gut, die nächsten Einheiten gingen besser, doch statt noch einen draufsetzen zu können, was im Leistungssport so wichtig ist, brauchte mein Körper eine Pause.
Irgendwas war nicht im Gleichgewicht. Sobald zu viele Trainingsreize kamen, war mein Körper überfordert. Im Spätherbst stellte sich heraus, dass Parasiten der Hauptgrund dieser Disbalance waren. Die sind überwunden: Statt Unsicherheit fühle ich nun Zuversicht.
Selbst wenn die Beine bei einer einzelnen Trainingseinheit schwer und müde sind, kommen keine Gedanken mehr, ob mein Körper wieder komplett rebellieren wird. Nun ist die Einheit nicht top, aber das ist völlig okay, solange es langfristig nach vorne geht. Und das geht es.
Bedingungslose Liebe ist für mich die beste Beziehung zum Laufen. Ich investiere Schweiß, Disziplin, Herzblut, aber ich erwarte keine direkte Gegenleistung.
Eine wiedergewonnene, fast schon kindliche Vorfreude auf herausfordernde Einheiten ergreift mich am Morgen, wenn die Sonne aufgeht. Daher hatte ich mich spontan entschieden, vergangenen Montag, einem Feiertag in Neuseeland, einen Wettkampf zu laufen: den Karapiro-Halbmarathon in Cambridge.
Nicht speziell vorbereitet, sondern als Trainingsreiz. Auch damit ich mich vom Kopf her wieder daran gewöhne, häufiger an der Startlinie zu stehen. Die Bedingungen waren herausfordernd, die Strecke hügelig mit längerem Wiesenabschnitt, Dauerregen, Wind und einem Sturz samt Matsch-Hintern-Rutschpartie meinerseits.
Spaß hat es gemacht, die Zeit (1:22:29 Stunden) ist bei den Bedingungen wenig aussagekräftig. Über den Gesamtsieg (war gleichzeitig sogar schneller als alle Männer) habe ich mich trotzdem sehr gefreut. Ich sehe das Trainingslager in Neuseeland als Chance und als Privileg.
Ich bin nicht mehr von den Laufergebnissen abhängig, um meine Miete und mein Essen bezahlen zu können. Meine Zwillingsschwester Anna und ich haben uns durch unser „Hahnertwins Coaching“ für das wir Trainings- und Ernährungspläne schreiben, ein zweites Standbein aufgebaut.
Die Coachingarbeit macht uns viel Spaß, hat ein bisschen mit unserem eigentlichen Studium (Bachelor of Education) zu tun, und wir können es selbst vom anderen Ende der Welt machen – Neuseeland liegt in der Tat direkt auf der anderen Seite der Erde. Neuseeland ist ein wunderschönes Land und besteht aus der Nord- und der Südinsel.
Ich bin auf der Nordinsel, genauer gesagt in Rotorua. Ich kann mir kein besseres Trainingsgebiet vorstellen. Quasi direkt vor unserer Tür ist der Whakarewarewa-Forest. Ein riesiges Waldgebiet (mehr als 5600 Hektar) mit unzähligen Wegen und wunderschönen Seen. Breite Forstwege, kleine verspielte Trails, bergauf und bergab und alles in schönster Natur.
Rotorua, eine von den Indigenen Māori geprägte Stadt mit etwas mehr Einwohnern als Fulda, wurde auf einem Vulkan gebaut. Unter der Erde gibt es noch immer geothermische und vulkanische Aktivitäten. Daher riecht es in der Stadt fast überall nach Schwefel oder – anders formuliert – nach verfaulten Eiern.
Apropos Eier. Beim Kochen darf ich mich nicht auf meine Intuition verlassen. Die Temperaturregler für die Herdplatten sind für uns Deutsche gefühlt falsch angeordnet. So warte ich manchmal vergeblich, bis die Pfanne für die Spiegeleier heiß wird, und zeitgleich brennt das Gemüse auf der anderen Platte an.
Mal wieder am falschen Regler gedreht. Hinzu kommt, dass die Stufen gegen den Uhrzeigersinn von 1 bis 6 steigen. Also genau andersherum. Auf die Sonne ist scheinbar Verlass, die geht auch hier im Osten auf. Doch dann ist schon wieder alles andersherum: Mittags steht sie im Norden statt im Süden und geht dann im Westen unter.
12 Stunden beträgt die Zeitverschiebung nach Deutschland. Wenn es hier 8 Uhr ist, ist es auch 8 Uhr in Deutschland. Nur nicht am Morgen, sondern noch am Abend zuvor, also 20 Uhr. Vor kurzem hatten wir einen Handwerker in unserer Unterkunft, und ich habe mich im Anschluss noch mit ihm über die Kulturunterschiede zwischen Neuseeland und Deutschland unterhalten.
Das ist ein Geschenk des Laufens: Durch unseren Sport sehen wir nicht nur viele Orte auf der Welt wegen der Wettkämpfe und Trainingslager, sondern lernen auch viele Menschen und Kulturen kennen. In unserer Leistungssportkarriere haben wir gelernt, dass der Weg genauso wichtig ist wie das Ziel. Als Leistungssportler sucht man sich immer ein großes Ziel, greift nach den Sternen.
Ein Rennen, eine bestimmte Zeit – und manchmal vergisst man auf dem Weg dorthin, innezuhalten und die Wochen vor einem Rennen nicht nur als Vorbereitung, sondern schon als Teil des Ganzen zu sehen. Training ist anstrengend, aber ohne eine gewisse Leichtigkeit im Kopf und Freude werden die Beine fest. Mir helfen dabei Yoga und Meditation, selbstgemachte Pralinen zum Kaffee, Telefonate in die Heimat, Musik, ein schöner Film oder ein gutes Buch.
Ins Laufen verliebt habe ich mich bei unserer Initialzündung, einem Motivationsvortrag von Joey Kelly im Februar 2007 in Künzell. Nach zehn Jahren Profisport ist mir bewusst geworden, dass bedingungslose Liebe die für mich beste Beziehung zum Laufen ist. Ich investiere Schweiß, Disziplin, Herzblut, aber ich erwarte keine direkte Gegenleistung. Ich laufe des Laufens willen und nehme somit den Druck raus und freue mich über alles, was ich in Zukunft noch erreiche.