„Seit Norwegen kann ich nur noch mehr betonen, wie wichtig das richtige Equipment für einen solchen Lauf ist“, sagt Sascha Gramm gute drei Wochen nach dem Rennen. Denn ohne die Notfallausrüstung sowie seine regenfeste, isolierende Kleidung wäre der 43-Jährige heute wohl nicht mehr am Leben.
Was war passiert? Die ersten 80 Kilometer des Rennens waren herausfordernd, aber für den erfahrenen Ultraläufer, der unter anderem bereits durchs australische Outback, die größte Salzwüste der Welt in Bolivien sowie den Dschungel Sao Tomés gelaufen ist, durchaus machbar. Vor allem die Schneepassagen sind ihm aber doch in Erinnerung geblieben. „Die Strecke war eher eine Kletter- denn eine Laufroute“, erinnert sich der Hainzeller. Ständig sei es steil hinauf und hinunter gegangen. „Wegen des ständigen Regens waren die Schneefelder zu Eisplatten geworden“, berichtet Gramm. Diese zu überwinden habe viel Kraft gekostet.
Zu viel für Gramms Begleiter. Er hatte sich mit einem Mexikaner sowie einem Franzosen zusammengetan. Möglichst im Team zu laufen, hatten die Veranstalter empfohlen, zur Sicherheit. An je einem der alle 15 bis 25 Kilometer eingerichteten Verpflegungspunkte zum Aufwärmen und Pausieren gaben aber zunächst der Mexikaner, dann der Franzose auf. Gramm, der sich nach wie vor gut fühlte, war also nun doch auf sich allein gestellt. Ausgestattet mit GPS sowie einer Karte auf Papier aber zunächst kein Problem.
Bis zur letzten Verpflegungsstation. „Dort habe ich erfahren, dass ich der letzte Läufer auf der Strecke war“, so Gramm. Alle hinter ihm laufenden Teilnehmer waren wegen des Wetters aus dem Rennen genommen worden oder hatten aufgegeben. Der Hainzeller war aber weiterhin guter Dinge. Ausgestattet mit ein paar weiteren Energieriegeln machte er sich auf den letzten Abschnitt des Rennens.
Und dann war plötzlich das GPS-Signal weg, die Karte half in einer Landschaft aus Schnee und Eis ohne klare Landmarken kaum weiter. „Ich bin dann ein Stück abgestiegen, in der Hoffnung, dass das Signal wiederkommt“, berichtet Gramm. Ohne Erfolg. Per Handy den Veranstalter zu erreichen, um zumindest die Himmelsrichtung für den richtigen Weg zu erfragen, klappte ebenfalls nicht. Kein Signal. „Dann wollte ich zum letzten Checkpoint zurücklaufen, aber ohne GPS und Landmarken konnte ich den Weg nicht mehr zurückverfolgen.“
Auf der Karte habe er dann gesehen, dass in etwa sieben Kilometern Entfernung eine Ortschaft eingezeichnet war. Die war nun sein Ziel. Er machte sich auf den Weg. Unterwegs sah er plötzlich zwischen zwei Bäumen ein Auto stehen. Die Rettung!
Doch der Schock folgte auf den Fuß. „Als ich vor dem vermeintlichen Auto stand, habe ich erkannt, es ist nur ein Fels“, erinnert sich der Ultraläufer. Gramm halluzinierte. „Da war mir klar, ich brauche eine Pause.“ Er war zu dem Zeitpunkt seit mehr als 35 Stunden auf den Beinen, im Dauerregen im Hochgebirge. In einer Felsspalte machte er sich ein Feuer, erhitzte Wasser, kämpfte sich in trockene Socken und kauerte sich unter seine Rettungsdecke. Zwei Stunden ruhte er, dann ging es weiter. Er wusste, zu lange durfte er nicht pausieren.
Und dann, für Gramm grenzte es fast an ein Wunder, zeigte das Handy beim regelmäßigen Check einen Balken Empfang – und noch zehn Prozent Akkuleistung. „Ich habe dann sofort versucht, die Bergrettung zu erreichen“. Mit Erfolg. Kurz darauf überflog ein Hubschrauber das Pinienwäldchen, in dem Gramm sich befand. Mit Hilfe der Rettungsdecke und seiner Trailstöcke machte er sich bemerkbar. Die Rettung war da.
Später erfuhr Gramm, dass der Veranstalter bereits einen Suchtrupp nach ihm losgeschickt hatte. Doch er weiß auch, hätte er noch drei oder vier Stunden länger in Kälte und Regen ausharren müssen, wäre eine Rettung womöglich zu spät gekommen.
Dass die Ereignisse für ihn gut ausgegangen sind, hat er neben der guten Ausrüstung wohl vor allen Dingen einem Faktor zu verdanken: Er ist nicht in Panik geraten. „Ich habe überhaupt nicht rational gedacht, sondern einfach funktioniert, habe instinktiv gehandelt, Schritt für Schritt“, so Gramm.
Allerdings hat er immer versucht, sich zu motivieren, nicht aufzugeben. Etwa mit dem Gedanken an seine Frau und die beiden Töchter in Hainzell. Oder an seinen Großvater, der im Zweiten Weltkrieg ein Bein verloren hat, sich zurück nach Hause gekämpft und nie den Lebensmut verloren habe, so erzählt es der Enkel heute. „Ich glaube, von ihm habe ich meinen Kampfgeist und mein Durchhaltevermögen geerbt.“
Trotz seiner unguten Erfahrungen beim Ultra Norway Race hat Sascha Gramm mit Norwegen noch nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: „Da ist noch eine Rechnung offen.“ Eines Tages möchte er das Rennen beenden. Möglichst bei besserem Wetter. Und in Begleitung. Zwei Mitläufer haben sich bereits angeboten. „Die Anteilnahme im Team war enorm. Ich bin so dankbar“, sagt Gramm. Und wieder stockt ihm die Stimme.